Berlins Mitte zu durchqueren ist derzeit nicht einfach. Die Fanmeile zur Fußball-WM blockiert unweit des Brandenburger Tores die wichtigste Ost-West-Verbindung. Vor dem Reichstag haben sich unzählige TV-Übertragungswagen platziert. Kabel werden gelegt, Kamerapositionen abgecheckt. Niemand will sich am Mittwoch das politische Großereignis des Jahres 2010 entgehen lassen: das Duell zwischen Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) und dem von Rot-Grün nominierten DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck.
Noch nie hat eine Bundespräsidentenwahl in Deutschland so großes Interesse hervorgerufen, noch nie war das Votum der Bundesversammlung so spannend. Denn niemand kann hundertprozentig voraussagen, wie groß der "Gauck-Effekt" heute sein wird.
Rein rechnerisch ist die Sache klar: Schwarz-Gelb hat in der Bundesversammlung, in der 1244 Wahlleute aus dem Bundestag und den Ländern vertreten sind, eine bequeme Mehrheit von 21 Stimmen. Doch der Wunsch nach Gauck ist auch im schwarz-gelben Lager sehr ausgeprägt. Und die Wahl ist geheim.
Stimmenfang bei den Linken
Am Dienstag waren beide Kandidaten noch eifrig damit beschäftigt, Unterstützer auf ihre Seite zu ziehen. Wulff sprach zu den Wahlleuten der schwarz-gelben Koalition, Gauck erklärte sich vor der Linkspartei. Um möglicherweise doch gewählt zu werden, braucht er deren Stimmen. Doch vor allem die Spitze der Linken wiegelt kategorisch ab. "Er ist für den Afghanistankrieg, und er will den sogenannten Fürsorgestaat nicht" , kritisiert Fraktionschef Gregor Gysi.
Der erste Wahlgang beginnt heute um zwölf Uhr. Hier kann Gauck keinesfalls mit Stimmen der Linken rechnen. Sie haben zunächst eine eigene Kandidatin, die Ex-Journalistin Luc Jochimsen. Die große Frage wird sein: Schafft Wulff, die absolute Mehrheit von 623 Stimmen? "Es gibt eine gute Chance, dass es im ersten Wahlgang klappt, aber das weiß niemand" , sagt Wulff selbst. Am Dienstag hieß es, die Zahl der Abweichler in den schwarz-gelben Reihen schmelze und nur noch vier FDP-Wahlmänner seien für Gauck. Dennoch baut Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) schon mal vor. Es sei "auch okay" , wenn Wulff erst im zweiten Wahlgang gewählt werde.
SPD sieht wenig Chancen
Sollte auch dies nicht gelingen, fällt die Entscheidung im dritten Wahlgang, in dem die einfache Mehrheit reicht. Gewählt ist derjenige, der mehr Stimmen erhält. Viel Hoffnung, dass es Gauck schafft, hat die SPD auch nicht mehr. "Unsere Chancen sind sehr überschaubar" , räumt der Geschäftsführer der Fraktion, Thomas Oppermann, ein. Für Gauck müssten im dritten Wahlgang nicht nur Wahlleute von CDU/CSU und FDPstimmen, sondern auch Linke. Wie viele dazu bereit sind, war am Dienstag unklar. Gysi erklärte, man wolle zunächst die Entwicklungen in der Bundesversammlung abwarten und am Mittwoch das weitere Vorgehen beraten, sollte tatsächlich ein dritter Wahlgang nötig sein.
Obwohl die Koalitionsmehrheit für Wulff zu stehen scheint, versuchen führende Koalitionspolitiker den Eindruck zu zerstreuen, es handle sich bei der Präsidenten-Wahl um eine "Schicksalswahl" für die Koalition. Man solle der Wahl "jetzt nicht eine völlig überhöhte Bedeutung beimessen" , wiegelt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU)ab. Wie auch immer die Abstimmung heute ausgehe, "die Regierung steht da nicht infrage" . Egal, wie das Votum ausfällt, Wulff und Gauck werden sich schon am übermorgigen 2. Juli wiedersehen. Beide Kandidaten haben eine Einladung für das traditionelle Sommerfest des Bundespräsidenten. (Birgit Baumann aus Berlin /DER STANDARD, Printausgabe, 30.6.2010)