Wien - "Opas Kino" mag ein abwertender Begriff in cineastischen Diskussionen über das deutschsprachige Kino der Nachkriegszeit sein - aber wie wäre es mit "Ötzis Kino"? Schon in der späten Jungsteinzeit und der folgenden Kuperzeit gab es offenbar so etwas wie Bildersequenzen: Das fanden österreichische und britische Archäologen heraus, als sie bis zu sechstausend Jahre alte Höhlenzeichnungen in der Region Valcamonica in der norditalienischen Lombardei untersuchten. Wie die Wissenschafter am Dienstag mitteilten, reihen sich die Felsgravuren so aneinander, dass sie eine Sequenz wie in einem Comic-Strip oder eben einem Film ergeben.

"Diese Felszeichnungen sind keine statischen Momentaufnahmen, sondern Bilder, die Geschichten im Kopf der Betrachter entstehen ließen - ganz wie im Kino", erklärte Frederick Baker vom Museum für Archäologie und Anthropologie der britischen Universität Cambridge, die das Projekt zusammen mit der österreichischen Fachhochschule St. Pölten und der Bauhaus-Universität Weimar betreut. 

Location, location, location

Die Forscher fanden überdies heraus, dass die neolithischen Künstler für ihre erzählende Malerei besondere Orte auswählten, die oft einen spektakulären Blick auf die umgebene Tallandschaft und ein besonderes Echo boten. Warum Felsgravuren oftmals an verborgenen und schwer zugänglichen Plätzen liegen, ist Gegenstand von Spekulationen. Baker, der gemeinsam mit Christopher Chippindale das Projekt leitet, stellte dazu folgende These auf: Die Plätze der Felsbilder seien deshalb so ausgewählt worden, um den Betrachtern ein umfassendes visuelles und akustisches Erlebnis zu bieten.

Baker ergänzt: "Die Felszeichnungen, die die Kupferzeitmenschen in die Felsen ritzten, sind unserer Meinung nach keineswegs bloße Bilder, sondern aktiver Teil einer audiovisuellen Performance. Der Blick der Betrachter fiel zunächst auf ein Felsbild und wurde von dort auf weitere Orte mit Felsbildern gelenkt. Neben dem Auge kam auch das Ohr nicht zu kurz - denn die Felszeichnungen sind gehäuft an Stellen mit besonderen Echos zu finden. Damit handelt es sich bei den Felsbildern nicht um statische Momentaufnahmen, sondern um Bilder, die Geschichten im Kopf der Betrachter entstehen ließen - ganz wie im Kino".

Die Bilder zeigen unter anderem Kämpfe, die Jagd, Bauwerke oder tanzende Menschen. Erstaunlich ist dabei, dass der Tod nie eine Rolle spielt und auch Frauen kaum vorkommen. Produziert wurden die Szenen - die den Startschuss für den Beginn der erzählenden Malerei darstellen - in der Zeit von 4.000 bis 1.000 vor unserer Zeitrechnung. Damit reichen die Felszeichnungen, die in ganz Europa verstreut liegen, von der Jungsteinzeit bis zu den Römern. Die höchste Konzentration befindet sich mit 100.000 einzelnen Bildern in Valcamonica rund um die Gemeinden Paspardo und Cappo di Ponte in der Lombardei, in Norditalien. Hier werden aktuell auch die Untersuchungen im Rahmen des Projektes durchgeführt.

Platz nehmen im prähistorischen Kino

Mit Hilfe moderner Computertechnologie soll das prähistorische Medienerlebnis nun nachvollziehbar gemacht werden - hier kommt die Fachhochschule St. Pölten ins Spiel, wie Projektmitarbeiter Michael Kren vom Institut für Medienproduktion erklärt: "Mittels modernster Computertechnologie stellen wir die Fotos der Felsenbilder in Sequenzen dar und reanimieren diese wie bei einem Comic. Zudem analysieren wir die Bilder unter ganz unterschiedlichen Aspekten - denn wir wollen wissen, mit welcher Absicht unsere Vorfahren diese in den Felsen geritzt haben."

Und auch auf den Sound wird nicht vergessen: Im Projekt kommt die Archeo-Akustik - ein junges Forschungsgebiet, das sich mit akustischen Besonderheiten von Fundstätten beschäftigt - zum Einsatz, wie Feldforscherin Astrid Drechsler erläutert: "Wir checken quasi die Tonanlage des vermuteten Kinosaals und schauen, ob Orte mit Felszeichnungen ein besonderes akustisches Potenzial bieten. Dieses können wir nur mit unserem bloßen Ohr oftmals nicht erkennen. Zum Beispiel geht ein vorhandenes Echo aufgrund einer in der Nähe befindlichen Autobahn vollkommen unter und kann erst durch komplexe Geräuschfilter wiederentdeckt werden." (red/APA)