Nach Spanien hat Belgien, das ohne neue Regierung und etwas chaotisch dasteht, die EU-Präsidentschaft übernommen. Premier Yves Leterme will bewusst die zweite Geige spielen und den EU-Regierungschefs dienen.

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Das Land, das mit 1. Juli, Schlag Mitternacht, den Vorsitz in der Europäischen Union übernommen hat, stand tags davor nackt da. Zumindest für kurze Zeit. Und wenn man akzeptiert, dass "Manneken Pis" , ein jedes Jahr von Millionen Touristen aufgesuchtes Wahrzeichen in Brüssel, sinnbildlich für das ganze Land steht.

Der "kleine wasserlassende Mann" , eine Bronzestatue, ist eine Brunnenfigur, die - wie der Name sagt - Wasser auf seine Weise spendet. Zu bestimmten Anlässen wird er liebevoll verkleidet, vor wenigen Tagen mit einem Europakostüm. Denn die Übernahme des EU-Vorsitzes, des bereits zwölften im extrem EU-freundlichen Gründungsland Belgien, sollte auf Wunsch des Rathauses entsprechend demonstriert werden.

Am Mittwoch kam das Ganze aber durcheinander. Denn plötzlich wurde der Knabe, Petit Julien genannt, des Europakleides verlustig, später mit einem "Uncle Sam" -Kostüm amerikanisiert. Ein Zeichen gegen die EU?

Mitnichten, stellte die Stadtverwaltung sofort richtig. Das alles sei eine Reverenz vor dem 4. Juli, dem US-Unabhängigkeitstag. Am Sonntag, wenn die Tour de France vorbeikommt, wird das Manneken schon wieder als Radfahrer auftreten. Die touristische Posse eignet sich ganz gut als Symbol für den Zustand der belgischen Politik, die im EU-Chefsessel Platz nahm: Nach der Wahl vom 13. Juni gibt es noch keine neue Regierung (siehe weiteren Bericht), nur eine im Übergang. Und deren gescheiterter Premierminister hat in diesen Tagen - ganz ungewohnt bescheiden - angekündigt, was man für die EU-Präsidentschaft anstrebe: "Kontinuität vor allem" , sagte Yves Leterme, man wolle "die eigene Rolle zurücknehmen" , dem durch den neuen EU-Vertrag von Lissabon geschaffenen Ständigen Präsidenten Herman Van Rompuy und EU-Außenministerin Catherine Ashton "mehr Raum geben" .

Die belgische Ratspräsidentschaft wird mehr noch als der seit Jänner praktizierte Vorsitz durch Spanien vor allem dazu dienen, den Umbau der europäischen Macht- und Strukturverhältnisse zu begleiten. Die Führung durch Mitgliedsländer wie auch die Kommission dürfte schwächer, jene durch die Staats- und Regierungschefs noch stärker werden.

Dass Van Rompuy bis vor sieben Monaten belgischer Premierminister war, wird in Brüssel als Sicherheitsnetz gesehen, sollte die belgische Regierung aus innenpolitischen Gründen zum Problemfall werden. Erinnerungen an das tschechische Chaos im Jahr 2009 werden bei vielen wach.

Inhaltlich dürften die drei Themen dominieren, die im vergangenen Halbjahr praktisch ungelöst blieben: die Bewältigung der Wirtschaftskrise mit dem Wunsch, ihr durch eine Art EU-Wirtschaftsregierung beizukommen; bessere Regelung des Finanzmarktes; Umsetzung des Lissabon-Vertrages. Kompromiss ist gefragt. Dass die EU-Erweiterung entscheidend vorankommt ist kaum zu erwarten. (Thomas Mayer/DER STANDARD, Printausgabe, 1.7.2010)