Am 10. Juni öffnete ein virtueller Streit zweier Politiker den Blick auf ein massives Problem in der österreichischen Rechtsstaatlichkeit. Der Streit ereignete sich abseits der "res publica" in der Teilöffentlichkeit Originaltextservice der Austria Presse Agentur (OTS), der "Bassena" der österreichischen Innenpolitik (Kommunikationsprofis nennen OTS-Aussendungen wegen ihres Schnellschusscharakters "Otsen"). - Der BZÖ-Abgeordnete Grosz warf mit starken Worten der auch sonst nicht eben unumstrittenen Justizministerin Bandion-Ortner einen neuerlichen Justizskandal vor. Sie habe nämlich per Erlass die Untersuchung der Staatsanwaltschaft durch den dem Parlament verantwortlichen Rechnungshof verhindert, wie dessen Präsident Moser vor einem Parlamentsausschuss kundtat. Kaum eineinhalb Stunden nach Grosz meldete sich ÖVP-Mandatar Donnerbauer "otsend" zu Wort. Er verteidigte die von seiner Partei nominierte Justizministerin und mahnte Grosz zu "mehr Sachlichkeit" - die Sache selbst überging er völlig.

Ein Sittenbild der politischen Kultur Österreichs. - Wo die einen die Demokratie in Gefahr sehen, sichern die anderen "ihren" Staat.

Der Kern des Problems liegt im politischen Rechtsmissbrauch, einem Übel, das alle Parteien infiziert - naturgemäß regierende stärker als oppositionelle. Das Grundübel resultiert aus dem Holzweg österreichischer Rechtspositivisten, das Recht von sachlicher Objektivierung trennen zu wollen. Hans Kelsen wirft aufgrund der von ihm mitgestalteten Verfassungen von 1920 und 1929 den längsten Schatten auf das hiesige Rechts(miss)verständnis.

Recht rein - Arigona raus?

Die Öffentlichkeit nimmt von derlei Widerstreit um staatliche Institutionen kaum Notiz. Massenkompatibel und am Kern der Problematik ebenso nahe gelegen, ist jedoch der "Fall Zogaj". Mit dem kleinen Unterschied, dass es hier Innenministerium und (unabhängige) Justiz mit der Gewaltenteilung in der Demokratie nicht so genau zu nehmen scheinen. - Über das Schicksal der Kosovo-Flüchtlingsfamilie medial informiert, demonstrieren weite Teile der Öffentlichkeit gegen scheinbar rechtens doch faktisch politisch administriertes Asylrecht.

Es geht also nicht (nur) um rechts oder links, konservativ oder progressiv, Rechtsstaat versus internationale humanitäre Rechtsprechung. Vielmehr hat es den Anschein, als stünden einflussreiche politische Personenverbände, die es gewohnt sind, durch ihre (juristisch ausgebildeten) Mitglieder Österreichs Staatlichkeit zu repräsentieren, beharrlich in kulturellem Konflikt mit den internationalen Standards westlicher Demokratien.

In den Vereinigten Staaten USA ist es praktisch unmöglich, dass eine Gewalt im Staat (auch nicht deren zwei) sich dauerhaft gegen die öffentliche Sache stellen könnte. - Rücktritt in Folge persönlich zu verantwortender Amtsbeschädigung inklusive.

Was hierzulande bis heute beharrlich ignoriert wird ist die soziale Tatsache, dass öffentliches Recht - in seiner Eigenschaft als Privileg - sachlich begründet zu sein hat. Kelsens Luftschloss von einer "Sollenswissenschaft", die ihr System jeder Überprüfung zu entziehen trachtet, wohnt die Gefahr des Rechtsmissbrauchs bereits inne.

Das innerstaatlich gewährte Vorrecht für die öffentlich-rechtliche Sphäre, höherrangig als Privatrecht bewertet zu werden, hat in einer westlichen demokratischen Republik auch öffentlich objektivierbar zu sein. Andernfalls droht aus Unverstand für sachliche Zusammenhänge und der Willkür des Amtsgeheimnisses die Missachtung bis Außerkraftsetzung der republikanischen Ordnung. - Und willige Vollstrecker politischer Mächte könnten mit den Institutionen der Demokratie nach Gutsherrenart fuhrwerken bzw. tun dies bereits.

Wenn also, wie vom Rechnungshof aufgrund medialer Berichte vermutet, die Staatsanwaltschaft - offenbar sachlich unzureichend begründet - zum Beispiel von prominenter Seite verursachte Straftatbestände nicht verfolgt, bedarf dies sachlicher Begründung und öffentlicher Aufklärung. Wird eine Überprüfung durch den Rechnungshof verweigert, dann steht die Vermutung von politischem Machtmissbrauch mit Recht im Raum.

Was müsste sich grundlegend ändern? Zu allererst müsste das Juristenmonopol im (leitenden) Staatsdienst fallen. Seit Hans Kelsens Kopfgeburt der "Reinen Rechtslehre" dient sich eine Juristen-Generation nach der anderen den herrschenden Mächten im Staat an.

Das Staatsverständnis in dafür typischen Personenverbänden (beispielsweise dem Österreichischen Cartellverband oder der Gewerkschaft öffentlicher Dienst) hat Josephinismus und Neo-Absolutismus noch nicht überwunden. Realiter wird der Staat eher im Sinne einer (absenten) kaiserlich-apostolischen Majestät verwest als dass die Interessen der Allgemeinheit befördert werden.

Solche "Staatsdiener Österreichs" wären in einem Akt der Selbstreinigung aus ihren historisch verstaubten Amtsstuben zu fegen. So wie in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 die politische Kultur und Gesellschaft stark von der Reeducation des öffentlichen Dienstes durch die Alliierten profitierte - dies gelang nicht zuletzt durch Interdisziplinarität.

Lebensblinde Legistik

Die im Rechtspositivismus gelehrte Ausblendung des Wissens aus Soziologie, Psychologie, Ethik und sogenannten Lebenswissenschaften macht die Legistik blind und deren Gesetze für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. Profiteur dieses Juristenmonopols ist primär der eigene Berufsstand. Hieran zeigt sich ein Residuum des real existierenden Ständestaates mit seiner gesetzlichen Normierungswut. Die lediglich Klientelismus fördernde öffentliche Verwaltung dieser Republik muss endlich auf einer rechtssoziologisch inspirierten Grundlage - wie zum Beispiel von Eugen Ehrlich pionierhaft entwickelt - neu konstituiert werden.

Die Modernisierung des illiberalen, antirepublikanischen Rechtssystems ist unverzichtbar, soll Österreich inmitten Europas nicht als Staat scheitern. Die aufgeblähte und heillos desorganisierte föderalistische Staatsbürokratie gehört im Wege einer grundlegenden Staats- und Verwaltungsreform neugeordnet. Konsequenterweise müsste innerstaatlich für alle Aufgaben, die auch von Privatrechtssubjekten erbracht werden können, das öffentliche Recht abgeschafft werden. Im Freiraum zwischen einem vernünftig und effizient ausgestalteten Minimum an staatlich garantierter Rechtssicherheit und einem Maximum an sozialer und ökonomischer Freiheit erhalten die Menschen die Wahlfreiheit, um mündig und verantwortungsvoll ihre Lebenschancen (© Ralf Dahrendorf) entfalten zu können. (Bernhard Martin/DER STANDARD, Printausgabe, 3. Juli 2010)