"Wikipedia ist ein Lexikon, kein Geschichtswerk", sagt Peter Haber zu Bedenken von Historikern.

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Standard: Wie viele Wikipedia-Edits haben Sie selbst schon beisammen?

Haber: Ich habe selbst sehr wenig zu Artikeln in Wikipedia in Form von Beiträgen und Korrekturen beigetragen. In den letzten Jahren bin ich sogar noch zurückhaltender geworden. Hauptsächlich lese ich und reflektiere darüber. Ich möchte die Rollen nicht vermischen, ich bin kein Wikipedianer, sondern ein Wikipedia-Erforscher, ein Wikipedist.

Standard: Historiker kritisieren Wikipedia als Faktenhuberei ohne Kontext.

Haber: In der Tat. Untersuchungen haben gezeigt, dass Artikel zu historischen Themen zwar nur wenige Fehler enthalten, dass die angehäuften Fakten aber weder gewichtet noch eingeordnet werden. Aufgrund des kollektiven Schreibprozesses ist auch die Sprache sehr einfach und voller Stilblüten - da wurden wir in unserem Forschungsseminar "Wikipedia und die Geschichtswissenschaften" an der Uni Wien einige Male fündig.

Standard: Teilen Sie die Kritik Ihrer Kollegen?

Haber: Wikipedia ist ein Lexikon, kein Geschichtswerk. Das Problem scheint mir eher die Erwartungshaltung. Die Nutzer hätten gerne mehr Interpretation und Kontextualisierung. Aber dafür ist eine Enzyklopädie ja gerade nicht gedacht, bei Brockhaus sucht das auch niemand.

Standard: Dafür sehe ich eine Tendenz zu Nebensächlichkeiten.

Haber: Ja, es gibt viele Trivia im Text, also unterhaltsame, aber kaum relevante Details. So gibt es im englischsprachigen Dollfuß-Artikel einen eigenen Absatz, wonach der österreichische Bundeskanzler nur 155 Zentimeter groß gewesen sei und deswegen "Millimetternich" genannt worden sei, während sein persönlicher Adjutant Eduard Hedvicek zwei Meter groß gewesen sei. Im deutschsprachigen Dollfuß-Artikel fehlt das.

Standard: Gibt es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Wikipedia-Sprachvarianten?

Haber: Das war eines der erstaunlichen Ergebnisse unseres Forschungsseminars: Die englischen Versionen sind sehr oft besser, der Dollfuß-Artikel ist da eine Ausnahme. Besonders Einträge zu Personen und Ereignissen sind gefährdet, national eingefärbt zu sein. Wir haben uns das beispielhaft angeschaut, etwa anhand der Artikel zum Kalten Krieg auf Englisch, Deutsch und Russisch. Da finden sich grundlegende Unterschiede in der politischen Einschätzung und vor allem in der Aufmachung. Während die englischsprachige Wikipedia mit einem Bild von Reagan und Gorbatschow das Ende des Kalten Krieges visualisiert, zeigt die russischsprachige Version eine schematische Auflistung der Blockländer.

Standard: Böte Wikipedia nicht eine große Chance für die Historiker, ihr Wissen allen zugänglich zu machen?

Haber: Es gibt einige Kollegen und auch die eine oder andere Initiative, die sich sehr einbringen, und ich finde das gut. Auch ich habe in einer früheren Lehrveranstaltung neue Artikel schreiben lassen. Aber ich kann Historikern nicht guten Gewissens zur Mitarbeit bei Wikipedia raten, denn das kostet sehr viel Zeit und bringt für die akademische Karriere nichts. Und ein Doktortitel nützt ihnen auf den Diskussionsseiten von Wikipedia wenig, dort gelten andere Reputationskriterien.

Standard: Welche?

Haber: Die Zahl der Edits, die sie vorgenommen haben. Bei Wikipedia haben jene das Sagen, die über viel freie Zeit verfügen, man spricht von der "Diktatur der Zeitreichen".

Standard: Wie lässt sich Wikipedia eigentlich erforschen? Was weiß man über die Schreiber?

Haber: Nun, einerseits weiß man sehr wenig. Viele Wikipedia-Autoren schreiben anonym, es lässt sich nur sehr schwer etwas Gesichertes über ihre Person, ihren Background oder ihre Motivation herausfinden. Andererseits weiß man dank der Diskussionsseiten und aller früheren Versionen eines Artikels - die werden ja alle gespeichert - sehr viel über dessen Entstehungsgeschichte. Um zu untersuchen, wie eine Masse Wissen erzeugt, ist das eine Goldgrube.

Standard: Wir alle nutzen Wikipedia. Taugt es auch als Werkzeug der Didaktik?

Haber: Man sollte sich schon vorher etwas auskennen, bevor man bei Wikipedia nachschlägt. Je komplexer das Thema ist, desto größer ist das Risiko, dass der Artikel nicht als Einstieg taugt. Wir untersuchten etwa den Artikel "Frühmittelalter", der ist strukturlos und voller Lücken. Der Artikel zu "Aufklärung" blendet die Vielschichtigkeit des Begriffs aus: Dass damit sowohl eine Epoche als auch eine geistige Bewegung gemeint ist, wird nicht deutlich.

Standard: Dürfen Ihre Studierende in den Seminararbeiten aus Wikipedia zitieren?

Haber: Ja, aber sie müssen begründen, warum sie das tun. Dann fangen sie nämlich an, über Wikipedia und die dahinterliegenden Mechanismen nachzudenken. Von Verboten halte ich nichts. Wikipedia ist Teil unserer Medienwirklichkeit, deswegen sollten wir den Umgang damit üben und deren Funktionsweise kennen.

Standard: Sie raten zur Vorsicht im Umgang mit Wikipedia. Wie gut oder schlecht war es denn für Ihre Karriere als Historiker, sich mit Wikipedia zu befassen?

Haber: Gemischt. Meine erste Lehrveranstaltung zu diesem Thema konnte ich nicht im eigenen Fach anbieten, sondern in den Medienwissenschaften. Aber ich konnte mich über das Thema Geschichtswissenschaft und digitale Medien habilitieren - und die Wiener Gastprofessur war genau zu dem Thema ausgeschrieben. Die Geschichtsforschung an der Uni Wien hat in diesem Bereich eine wichtige Vorreiterrolle im deutschsprachigen Bereich.

(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7. Juli 2010)