Es ist wieder einmal Zeit für ein Geständnis: Ich habe ins Geschehen eingegriffen. Um die Geschichte - um ein Wolfgang Fellner zugeschriebenes Wort zu verwenden - optisch „aufzuspicen". Dass das eigentlich so was von gar nicht geht, ist eh klar. Und da es sich um eine Bild-Intervention handelt wäre es in dem Fall Matthias Cremer, der mit dem flammenden Schwert der Reportage-Authentizitätsbewahrer über mich herfallen müsste. Und sein freundlichstes Wort wäre wohl: „Rotte, das ist aber wirklich so was von einem Nono!"

Foto: Thomas Rottenberg

Aber ich stehe dazu. Erstens, weil der ganze Act an sich schon hohen Skurrilitätswert hatte. Und zweitens, weil außer Martin Humer und seinen sieben oder acht Geriatrie-Freigängern ohnehin allen Zusehern außer nach Grinsen nur nach Grinsen zumute war: Das „Kundgeberl" des pornojagenden Fundamentalchristen wider den Life Ball regte nicht einmal zu Diskussionen an - und vermutlich wären die beiden lustigen rundlichen Verkleideten früher oder später auch von selbst auf die Idee gekommen, zu tun, worum ich sie bat: Sich auf die Bank unter dem Schild „Wir sind normal" zu setzen nämlich.

 

 

Foto: Thomas Rottenberg

Von Polizisten belacht

Aber diese Manipulation störte nicht. Nicht einmal Humer und seine Greise. Aber vielleicht bekamen sie das ja auch nicht einmal wirklich mit. Das Gefühl, dass die Bank-Demonstranten nicht so wirklich mitbekamen was da um sie geschah, hatte nämlich nicht nur ich: Sich sogar von Polizisten auslachen zu lassen, tun sich ja nicht einmal Wachturm-Werber heute mehr an.

 

Foto: Thomas Rottenberg

Auch Martin Humer selbst dürfte mittlerweile ein bisserl Gaga sein. Oder ferngesteuert: Als ich ihm für die wirklich große Kiste (unbenutzter) bedruckter Klopapierrollen dankte, die er mir als Dank & Lob für den Standard-Artikel über seine Demo als Life-Ball-Programmhighlight geschickt hatte, sah er mich bloß entgeistert an, murmelte vor sich hin ¬und hatte augenscheinlich keinen Tau, wovon ich sprach.

Foto: Thomas Rottenberg

Das ist schade. Denn ich kenne Humer auch anders. Einst, vor gefühlten 15.000 Jahren, besuchte ich ihn nämlich in seinem Haus. Für ein Portrait über den Pornojäger. Es war eines der seltsamsten Erlebnisse meiner ganzen Laufbahn: Der damals schon alte Mann führte mich durch eine Wohnung, in der jedes Zimmer mit deckenhohen Regalen komplett voll gebaut war. Die Gänge waren höchsten 60 Zentimeter breit: Humers Pornoarchiv - das vermutlich größte und kompletteste im Prä-Internet-Zeitalters.

 

 

Foto: Thomas Rottenberg

Spooky

Mein Fotograf war damals fassungslos gewesen: Wir hatten ein Spukschloss erwartet - aber das übertraf dann doch unsere kühnsten Vorstellungen. Doch Humer toppte auch das noch: Nach seiner Frage wie mein Tag begänne, legte er uns nämlich dann seinen Tagesablauf dar: Aufstehen - Pornoschauen - Gebet - Pornoschauen - Gebet - Frühstück - Pornoschauen - Gebet - Anzeigen an die Staatsanwaltschaft schreiben - Pornoschauen - Gebet - Mittagessen - kurze Rast - Gebet - Korrespondenz (mit Staatsanwälten und Verbündeten) - Pornoschauen - Gebet - Anzeigen schreiben - Pornoschauen - Gebet - Abendessen - Pornoschauen - Gebet - Schlafengehen.

Und die unverrückbare Wahrheit war schon damals, was nun auch beim Life Ball als Transparent über der Bank zu lesen stand: Martin Humer ist normal. Pervers sind die Anderen.

(Thomas Rottenberg, derStandard.at, 18.7.2010)

Foto: Thomas Rottenberg