Sozialwissenschaft im 21. Jahrhundert: Die Auswertung eines Online-Spiels hilft, die echte Gesellschaft zu verstehen.

Illu: Bayer & Szell OG

Wien/Washington - Es war im Jahr 1838, als der französische Mathematiker Auguste Comte erstmals den Begriff Soziologie verwendete und damit eine neue Wissenschaftsdisziplin mitbegründete. Nach Vorbild der Naturwissenschaften sollten gesellschaftliche Tatsachen systematisch erforscht und soziale Gesetze ermittelt werden.

Doch die Hoffnungen einer exakten "sozialen Physik" , die Comte vorschwebte, sollten sich als trügerisch erweisen: Die Gesellschaft überforderte in ihrer ganzen Komplexität mathematische oder physikalische Analysen und erwies sich buchstäblich als "unberechenbar" .

Das könnte sich 172 Jahre nach Comtes folgenreicher Begriffsschöpfung dank eines österreichischen Forscherteams ändern: Die Physiker und Mathematiker Michael Szell, Renaud Lambiotte und Stefan Thurner haben erstmals alle Prozesse einer menschlichen Gesellschaft mit über 300.000 Individuen mit naturwissenschaftlicher Präzision vermessen.

Einer richtigen menschlichen Gesellschaft? Fast. Die drei Forscher - zwei von ihnen arbeiten am Institut für Wissenschaft komplexer Systeme an der MedUni Wien - sammelten vier Jahre hinweg Daten aus dem von Szell mitentwickelten Onlinespiel "Pardus", bei dem die Teilnehmer ein alternatives "Second Life" in einer Science-Fiction-Umgebung ausleben können.

Eher "zufällig" haben die beiden Pardus-Betreiber sämtliche anonymisierten Daten aufgezeichnet, die praktisch jede soziale, wirtschaftliche oder politische Handlung jedes einzelnen Spielers umfassen. Diese Datenbank stellt nun so etwas wie eine wissenschaftliche "Goldgrube für Jahre dar" , sagt Szell, der darüber unter anderem seine Dissertation schreibt.

In einem erste Artikel im US-Wissenschaftmagazin PNAS haben die Forscher erste Erkenntnisse aus diesem gigantischen sozialwissenschaftlichen Experiment veröffentlicht und dabei insbesondere die freundschaftlichen und feindschaftlichen Beziehungen zwischen den Spielern unter die Lupe genommen.

Waren Aussagen dieser Art bislang eher nur als Spekulationen möglich, konnten die "Sozial-Physiker" unter anderem die Theorie des sozialen Gleichgewichts quasi empirisch bestätigen, das in seiner einfachen Version besagt, dass der Freund meines Freundes ebenfalls ein Freund ist bzw. der Feind eines Feindes auch eher ein Freund.

Ultimatives Ziel sei es, mithilfe dieser Onlinewelt weitere "Naturgesetze" über menschliches Gruppenverhalten aufzudecken, so Thurner, um mit Massenphänomenen wie Wirtschaftskrisen oder sozialen Unruhen besser umgehen zu können. Und zwar in der wirklichen Welt. (Klaus Taschwer/DER STANDARD, Printausgabe, 20. 7. 2010)