Istanbul - Gäbe es sie nicht, wäre Istanbul heute vielleicht nur halb so groß: die Gececondus, die "über Nacht gelandeten", wie sie wörtlich übersetzt heißen. Laut osmanischem Gewohnheitsrecht durfte ein Haus, das auf öffentlichem Grund über Nacht gebaut wurde, nicht mehr abgerissen werden. Bis vor zwei Jahren galt dieses Recht, in der ganzen Türkei entstanden so Millionen von Häusern.

1972 hatte Istanbul etwa 1,8 Millionen Einwohner, heute sind es je nach Schätzung zwischen 13 und 18 Millionen. "Etwa 40 bis 50 Prozent dieser Erweiterung ging über die Gececondos", sagt Architekt Walter Stelzhammer, der sich seit vielen Jahren mit Städtebau in der Türkei beschäftigt. Die arme Landbevölkerung, die in die Stadt zog, schuf sich auf den Hügeln rund um Istanbul so ihre eigenen Stadtviertel. Die Machthaber duldeten die Siedlungen, da so Arbeiter in die Stadt kamen, ohne dass sie für ihre Unterbringung oder Versorgung zahlen mussten.

In den 90er-Jahren wurden manche der Siedlungen an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossen. Andere wurden und werden privatisiert, abgerissen und durch Hochhaussiedlungen ersetzt. Bis heute kommt es dabei immer wieder zu Protesten. Seit 2008 gilt das Gewohnheitsrecht nicht mehr, neue Gececondus wird es nicht mehr geben. "Die Urbanisierung in der Türkei ist größtenteils abgeschlossen", meint Stelzhammer.

Manche Theoretiker sehen sie dafür als ein Modell für den Lebensraum der Zukunft, die Megacitys: Horizontal statt vertikal verdichtet, perfekt in die Landschaft eingepasst, dynamisch, selbst organisiert und oft multifunktionell könnten sie einen Weg zeigen, starre Stadtplanungsmodelle zu überwinden. (tob/DER STANDARD, Printausgabe, 28.7.2010)