Der russische Präsident Dmitri Medwedew hat in sieben Regionen angesichts der verheerenden Brände den Notstand ausgerufen. Die größte Brandkatastrophe in 40 Jahren bedroht die Ernte und die Industrie; der Export von Getreide könnte sich fast halbieren. Trotz der fast lückenlosen Kontrolle der wichtigsten Medien wird aber bereits auch die Frage der Verantwortung diskutiert. Es geht dabei um das Verhältnis zwischen dem Moskauer Machtzentrum und den rund 90 Regionen und autonomen Gebieten.

Ministerpräsident Wladimir Putin, der begnadete Techniker der Macht, hatte die politische Brisanz der Situation sofort erkannt und erschien persönlich in der besonders schwer betroffenen Region Nischni Nowgorod, um Hilfe zu versprechen. Putin und sein Katastrophenschutzminister wälzen die Schuld für das Versagen im Kampf gegen die Flammenhölle auf die Bezirks-und Regionschefs, die wiederum händeringend nur flüstern dürfen, dass sie zu wenig Freiraum hätten, da die zentrale Bürokratie alle Macht an sich gerissen habe.

Wer erinnert sich noch daran, dass gerade die Provinz Nischni Nowgorod in den 90er-Jahren auch international als Modell für ganz Russland anerkannt wurde. Der 32-jährige Wissenschaftler und Reformer Boris Nemzow hatte als Gouverneur durch seinen Kampf gegen die Korruption und mutige Privatisierungsreformen die Monopole zerschlagen und in sechs Jahren das Wachstum angekurbelt. Der Mann, den Präsident Jelzin dann zum ersten Vizepremier (1997-1998) ernannt hatte, wurde später einer der Wortführer der Opposition und schärfster Kritiker Putins.

Am vergangenen Wochenende gehörte Nemzow zu jenen hundert mutigen Personen, die in Moskau bei einer Protestkundgebung die Einhaltung des 31. Paragrafen der russischen Verfassung zur Versammlungs-und Demonstrationsfreiheit forderten. Die Polizei löste ihre Kundgebung besonders brutal auf, und unter den Verhafteten befand sich auch Boris Nemzow. Wegen Ungehorsams gegenüber der Polizei können sie mit 15 Tagen Arrest bestraft werden.

Ich hatte diesen hochbegabten Politiker zusammen mit anderen russischen Reformern, wie Putins einstigen Wirtschaftsberater Andrei Illarionow, die Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski und Wladimir Ryschkow, bei den Weltwirtschaftsforen 2000 und 2002 kennengelernt. Sie alle wurden seitdem von der allmächtigen Staatsbürokratie im Dienste Putins kaltgestellt.

Was hat das alles mit der Brandkatastrophe zu tun? Ohne die Ausmerzung der allgegenwärtigen Korruption und ohne Reformen der Institutionen kann die lebenswichtige Modernisierung Russlands nicht vorangetrieben werden. Die Schattenwirtschaft soll bereits die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes umfassen. Die Begleiterscheinungen der Brandkatastrophe zeigen mit aller wünschenswerter Deutlichkeit, dass Medwedew nur das schöne Gesicht des von Boris Nemzow seit Jahren kritisierten "Putinismus" ist und dass die Allmacht der korrupten Bürokratie die Zukunft Russlands gefährdet. Auch die Scheinstabilität könnte dem lodernden Feuer über Russland zum Opfer fallen. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 5.8.2010)