Der Boden schwingt auf und ab, als würde eine Truppe von Marines einmarschieren. Die Bässe wummern, die Fensterscheiben vibrieren, die schwitzende Meute grölt und kreischt sich die aufgestauten Emotionen der letzten Dekade aus dem Leib. "Let it go", schreit Gabrielle Roth ins Mikrofon. "Let it go and tell your brain: Shut the fuck up!"
New York ist nicht nur Schmelztiegel unzähliger Nationen und Kulturen, sondern auch Geburtsort des Ausdrucks- und Improvisationstanzes. Begonnen hat alles 1957, als Gabrielle Roth, damals noch Schülerin an der High School, in ihrer Freizeit ein Praktikum an der Klinik absolvierte. Mit Kindern, aber auch mit psychisch kranken Menschen, die Schwierigkeit damit hatten, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, begann Roth damals zu tanzen. Was anfänglich noch auf Widerstand und staunende Augen stieß, entwickelte sich mit der Zeit zu jenem emotionalen Tanz, den Roth heute als "Fünf Rhythmen" bezeichnet.
"Ich tanze schon seit meiner Kindheit", sagt die 69-jährige Tanzpädagogin, "und ich dachte mir, dass ich die Leute auf diese Weise am ehesten aus der Reserve locken kann." Durch den Einsatz unterschiedlicher musikalischer Rhythmen - vom buddhistischen Wassergeplätscher über Klassik und Jazz bis hin zu gecoverten Disco-Rockern mit 180 Beats pro Minute - gelang es Roth, für jeden Geschmack das Passende zu finden. "Es war unglaublich. Selbst Menschen, die an Schizophrenie erkrankt waren, waren durch das Tanzen mit einem Mal irgendwie ruhiger, irgendwie klarer im Kopf."
Die Arbeit mit den psychisch Kranken ist längst Geschichte. Mehr als 50 Jahre später treffen sich in New York Tänzer und Tänzerinnen aus aller Welt ein. Für drei volle Tage wird die Tanzschule Ballet Hispanico, ein zehnstöckiges Balletthochhaus mitten in Manhattan, auf wildeste Weise zweckentfremdet. Wo normalerweise Arabesque und Attitude, Passé und Pliés unterrichtet werden, schütteln sich 80 tanzwütige Männer und Frauen aus aller Welt mit Blick auf Central Park und Upper West Side die Endorphine aus dem Leib.
Patricia ist Psychologin aus Buenos Aires. Clay ist in seinem wahren, seriösen Leben Vermögensberater in Chicago. Und Jonathan, der kleine alte Mann aus Washington State, arbeitete früher als Glasbläser, ehe er sich in seiner Pension dazu entschloss, endlich mal was für seinen Körper zu tun. "Ich brauche den Tanz, um nicht einzurosten. Außerdem ist das Tanzen gut für mein Wohlbefinden. Ich glaube, dass ich mittlerweile süchtig danach bin, mich zur Musik zu bewegen."
An der Einteilung in fünf unterschiedliche Rhythmen hat sich bis heute nichts geändert. Auf ein langsames Aufwärmen im weichen und weiblichen Flowing folgt ein klares, zackiges und männlich zugeordnetes Staccato. Am Höhepunkt werden diese beiden Grundrhythmen im so genannten Chaos vereint. Abgerundet wird der Tanz von den beiden, langsam wieder abklingenden Rhythmen Lyrik und Stille.
Nach ein, zwei Stunden schweißtreibendem Tanzen ist Ekstase angesagt. Patricia, die Psychologin aus Buenos Aires, ist zum Tier geworden. Wie ein Säbelzahntiger kriecht die Argentinierin über den Boden, wälzt sich im Schweiße ihrer tanzenden Kollegenschaft und schneidet Grimassen mit einem Grunzen und Granteln. Clay badet in einem See aus Tränen. Und Jonathan lacht sich den Kasperl aus dem Leib, schmeißt die Arme empor und macht einen auf Woodstock.
"Viele Menschen leiden daran, dass Körper, Geist und Seele voneinander getrennt sind und dass sie keinen Zugang zu ihren tiefsten Ängsten, Wünschen und Emotionen haben", sagt Roth. "Ich glaube daher, dass diese Form des Tanzes eine gute Methode ist, um auf körperlichem und meditativen Wege zu vereinen, was zusammengehört." Für manche Leute sei das Tanzen der "Fünf Rhyhthmen" einfach nur Sport und Ausdauertraining, für andere sei es Ausdrucksmittel ihrer Gefühle und körperliche Meditation. "Es gibt kein Dogma. Ich denke, dass alle Interpretationen richtig und wichtig sind. Doch das Schönste ist, dass sich das Tanzen anfühlt, als würde man Dorgen nehmen", sagt Roth am Ende. "Man ist komplett stoned und high, aber es ist legal und viel, viel billiger." (Wojciech Czaja/DER STANDARD/Rondo/06.07.2010)