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Foto: EPA/JALIL REZAYEE

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Foto: Afghanistan, Time Cover 09/08/2010

Kurz vor Mitternacht klopften sie an, die Taliban, und teilten Aisha, 18 Jahre alt, mit, dass es nun Zeit sei für ihre Bestrafung. Aisha war vor der Familie ihres Mannes geflüchtet beziehungsweise bei dem Versuch, zu fliehen, ertappt worden, und nun habe sie die Konsequenzen aus ihrem Handeln zu tragen. Ihr Ehemann, Anhänger der Taliban, war immer viel unterwegs gewesen, Aisha blieb bei seiner Familie zurück, die dazu überging, ihre Schwiegertochter als Sklavin einzusetzen. Die Prügel, die sie austeilten, waren so stark, dass sie früher oder später daran gestorben wäre, ist sich Aisha sicher. Sie floh, kam aber nicht weit. Kurz darauf kniete ihr Schwager über ihr, hielt sie fest, während ihr Ehemann mit einem Messer an ihrem Ohr ansetzte. Er schnitt ihr beide Ohren ab, danach ihre Nase.

"Kriegs-Porno" versus Anti-Abzug-Instrument

Das ist keine zehn Jahre her und das passierte nicht unter der Vorherrschaft der Taliban. Aisha fehlt seit rund einem Jahr die Nase in ihrem Gesicht, das US-Nachrichtenmagazin Time bringt in seiner neuesten, am 2. August erschienenen Ausgabe, ein Foto sowie die Geschichte über die junge Afghanin Aisha, die heute in einem Frauenhaus an einem geheimen Ort, irgendwo in Afghanistan lebt.

Am Mittwoch verließ sie Kabul in Richtung USA, um sich dort die Nase rekonstruieren zu lassen. Eine Kopie des Artikels über ihren Leidensweg im Gepäck, wurde sie gefragt, ob sie glaube, dass ihre Geschichte etwas verändern könne für die Frauen in ihrer Heimat. "Ich weiß es nicht", antwortete die 18-Jährige, sie wolle eigentlich nur wieder eine Nase in ihrem Gesicht haben.

Verhandlungen mit den Taliban

Aisha kann nicht schreiben oder lesen, und über das Time-Magazin hatte sie nie zuvor gehört, als Reporter ihr Fragen stellten und sie und ihre Geschichte auf ihr Cover hievten. Der Schritt sorgte für Furore in den USA: Die einen sprachen von "emotionaler Erpressung", manche sogar von "Kriegs-Pornographie," den anderen diente es als Instrument in ihrem Appell gegen einen verfrühten Abzug der internationalen Truppen am Hindukusch.

Das Time-Magazin macht die kommende Ausgabe mit dem Bild Aishas ohne Nase auf und stellt daneben die Frage "Was wird passieren, wenn wir Afghanistan verlassen?". Eine Frage, die mehr Öl bedeutet in der hitzigen Debatte rund um den Abzug aus Afghanistan. "Genau das passiert dann", sagt Manizha Naderi in der Time und bezieht sich dabei Aisha und Fälle wie diese. Naderi, Halb-Afghanin, Halb-Amerikanerin, leitet die Frauenorganisation "Women for Afghan Women" und die Bleibe, in der Aisha eine Unterkunft gefunden hat. "Die Leute sollen auf solche Fälle aufmerksam gemacht werden und sehen, was die Konsequenzen eines voreiligen Abzugs wären."

Sicher, es habe Fortschritte gegeben, Tausende Schulen seien gegründet, Frauen stellen heute 28 Prozent der Abgeordneten. Ein überstürzter Abzug aber würde Millionen von Mädchen und Frauen der Sklaverei unterwerfen.

Exit-Strategien

Derweil tastet sich Afghanistans Präsident Hamid Karzai nun bereits ganz offiziell zu Verhandlungen mit den Taliban vor, in Wirklichkeit sollen die ersten Kontaktaufnahmen zwischen Aufständischen und Regierung dabei schon längst stattgefunden haben, sagen Politiker wie Medien. Die Taliban, "das sind die Leute, die mir das angetan haben", sagt Aisha. "Wie kann man sich mit solchen Leuten aussöhnen?".

Der Krieg in Afghanistan findet seit gut neun Jahren statt, langsam werden die Exit-Strategien konkreter oder zumindest die Rufe danach. Immer lauter wird auch die Forderung nach Verhandlungen mit Taliban, um allmählich Frieden in das Land am Hindukusch zu bringen. Eine Strategie, die die Frauen Afghanistans in Angst versetzt. Zugeständnisse an die Taliban werden unumgänglich sein und in der Regel werden die das Leben der weiblichen Bevölkerung betreffen.

"Falsches Signal"

Auch die afghanische Regierung hat die Truppensteller eindringlich vor einer Festlegung auf ein Datum für den Abzug der Soldaten gewarnt. "Wenn wir heute, bevor wir die Voraussetzungen geschaffen haben, von einem Abzugsdatum sprechen, dann ist das ein falsches Signal", sagte der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Hamid Karsai, Rangin Dadfar Spanta. Den Afghanen werde bedeutet, dass man abziehen werde, bevor das Land auf eigenen Beinen stehen könne. An die Taliban würde damit die Botschaft ausgesandt, "dass es eine Exit-Strategie gibt, und ihr könnt in ein, zwei Jahren machen, was ihr wollt - wir gehen auf jeden Fall".

Der frühere Außenminister warnt "vor einer frühzeitigen Festlegung auf einen Abzug, bevor wir in der Lage sind, uns selber zu verteidigen." Die Diskussion dürfe nicht populistisch, sondern müsse sachlich geführt werden. Ein verfrühter Abzug "bedeutet, dass wir alle Errungenschaften - Bildung, Pressefreiheit, Gesundheitsversorgung, Frauenrechte, Menschenrechte - wieder verlieren werden". Die Taliban würden an die Macht zurückkehren. Afghanistan würde wieder zum sicheren Hafen islamistischer Terrorgruppen.

Abzug der Truppen

Die Niederländer, deren Engagement am Hindukusch Nato-Generalsekretär Rasmussen einmal als "Maßstab für andere" rühmte, machten derweil den Anfang: Zum Wochenbeginn kehrten 1.600 Soldaten ihrem Einsatzgebiet in Urusgan den Rücken und übergaben ihr Kommando amerikanischen und australischen Verbänden. Bis Ende nächsten Jahres werden die Kanadier ihre 2.800 Soldaten heimholen - dann wird auch der Abzug der ersten US-Kampfverbände aus der vordersten Frontlinie begonnen haben. Für die deutsche Bundeswehr hat der Außenminister Guido Westerwelle für Ende 2011 oder Anfang 2012 eine Reduzierung in Aussicht gestellt. Bis 2014 soll die Sicherheitsverantwortung vollständig den Afghanen übergeben werden.

"Man muss realistisch sein", schätzt ein Diplomat in Kabul die Lage gegenüber der Time ein. "Wir werden nicht ewig Truppen und Geld schicken können. Es wird einen Kompromiss geben und dabei werden auch Opfer gemacht werden müssen."

Sechs Schritte vor und zurück

Der Abzug der internationalen Gemeinschaft hätte desaströse Folgen, kommentiert die Time, und erzählt folgende Geschichte: In einer afghanischen TV-Show - Times: "Oprah-Style" - sprach die in Kanada aufgewachsene Moderatorin Mozhdah Jamalzadah mit ihrem Publikum über Frauenrechte, als ein Mann aufstand und einen Witz über ausländische Hilfsorganisationen erzählte, der in Afghanistan die Runde mache: In den Städten gingen die Frauen in der Regel stets sechs Schritte hinter ihren Männern auf den Gehsteigen, im ländlichen Helmand-Gebiet aber, wo die Taliban den stärksten Rückhalt genießen, verhalte es sich anders: Dort nämlich, so stellten die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen fest, marschierten die Frauen sechs Schritte vor ihren Männern. Die Mitarbeiter werteten dies als ein positives Zeichen, eilten zu den Männern hin und gratulierten ihnen zu ihrer Aufgeklärtheit. Die aber klärten wiederum die übereifrigen Ausländer auf: Die Frauen seien nur deswegen vor ihnen, da sie gerade ein Minenfeld passierten.

Die Pointe kommt an, das Publikum zerkugelt sich vor Lachen und die hübsche Moderatorin mit den engen Hosen und dem wallenden Haar sagt, dass es noch zehn bis 15 Jahre dauern wird, ehe Frau und Mann nebeneinander die Straße entlang marschieren. Aber wenn sie das einmal tun, so Jamalzadah weiter, dann profitiere das ganze Land davon. "Wenn wir über Frauenrecht reden, dann betrifft das ebenso Männer wie Frauen. Männer, die ein fortschrittliches Afghanistan sehen wollen. Wenn man Frauen opfert, um Frieden zu erreichen, opfert man damit ebenso Männer, die sie unterstützen und man übergibt das Land in die Hände von Fundamentalisten, die die Urheber der meisten Probleme in diesem Land sind." (fin, derStandard.at, 5.8.2010)