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Wie kann das komplexe Zusammenspiel vieler Zellen im Gehirn diese hervorragende Kombinationsleistung hervorbringen und Unsicherheiten aus den visuellen Eingangssignalen heraus rechnen?

Foto: REUTERS/Arnd Wiegmann

Tübingen - Wir sehen nur ein graues, abgerundetes Stück Plastik unter der Zeitung hervorlugen - und trotzdem wissen wir sofort, dass wir das Handy endlich gefunden haben. Unser Gehirn verrechnet die von den Augen gelieferte Sinnesinformation mit Erfahrungswerten und kann so die fehlende Information problemlos ergänzen.

In einem komplexen Verarbeitungsprozess vergleicht es das Vorwissen über die physikalische Beschaffenheit der Welt mit den aufgenommenen Signalen. "Perzeptuelle Inferenz" nennen Wissenschaftler diese Fähigkeit des Gehirns, Sinnesinformationen und Vorwissen zu einer schlüssigen Wahrnehmung unserer Umwelt zu kombinieren.

Acht Millionen für die Forschung

Wissenschaftler am neu gegründeten Tübinger Bernstein Center for Computational Neuroscience (theoretische Neurowissenschaften) wollen nun herausfinden, wie diese Vorgänge im Gehirn ablaufen. An dem Zentrum sind Forscher des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik, der Universität Tübingen, des Universitätsklinikums Tübingen sowie des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung beteiligt. Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt das Zentrum mit rund acht Millionen Euro.

Keine Maschine auch nur annähernd so leistungsstark

Die Forscher untersuchen, wie das komplexe Zusammenspiel vieler Zellen im Gehirn diese Leistung hervorbringen und Unsicherheiten aus den visuellen Eingangssignalen heraus rechnen kann: Welches Vorwissen ist nötig, um die Welt, die wir sehen, zu verstehen? Wie wirkt sich dieses Wissen auf die Sinneswahrnehmung aus? Wie wird Vorwissen im Gehirn gespeichert und wieder abgerufen?

"Die Tatsache, dass unser Gehirn solche Probleme scheinbar mühelos löst, ist umso bemerkenswerter, als dass es bis heute keine Computeralgorithmen gibt, die auch nur annähernd an diese Leistung herankämen", sagt Koordinator des Bernstein-Zentrums Matthias Bethge.

Die Wissenschaftler konzentrierten sich hauptsächlich auf die visuelle Wahrnehmung, wollten aber auch verstehen, wie die unterschiedlichen Sinnessysteme zusammenarbeiten, um ein möglichst realistisches Bild der Umwelt zu erzeugen, erklärt Bethge. Dazu nutzen die Forscher neuartige experimentelle Techniken, mit denen sie die Aktivität von großen Gruppen von Nervenzellen gleichzeitig und sehr genau messen können.

Aufbauend auf theoretische Studien und mit Hilfe von neuen Datenanalyseverfahren sollen diese Ansätze dazu genutzt werden, grundlegende Prinzipien der neuronalen Kodierung und der Inferenzprozesse zu entschlüsseln. Außerdem kann ein tieferes Verständnis darüber, wie unser Gehirn eine schlüssige Wahrnehmung der Umwelt erzeugt, neue klinische und technologische Anwendungsmöglichkeiten eröffnen, zum Beispiel im Bereich des maschinellen Sehens oder in der Entwicklung und Verbesserung neuronaler Sinnesprothesen. (red)