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Die Krise in Rumänien trifft auch die Kinder hart: Ab September sollen sämtliche Schulen des Landes, mit weniger als zweihundert Schülern und alle Kindergärten mit weniger als hundert Kindern geschlossen werden.

Foto: EPA/ROBERT GHEMENT

Bukarest - Es ist sieben Uhr morgens und der Verkehr rund um den Arcul de Triumf ist bereits zum Erliegen gekommen. In den Autobussen, die im Stau in dem mehrspurigen Kreisverkehr stecken, fächeln sich Bukaresterinnen mit bunten Fächern heiße Luft zu. Caniculă: Die Hitzeperiode lähmt die rumänische Hauptstadt. Aber es ist nicht nur die glühende Sonne, die den Rumänen dieser Tage den Schweiß auf die Stirn treibt. Es ist auch die Finanzkrise, die das Land beutelt. 

20 Milliarden Euro beträgt das Staatsdefizit. Nachdem EU, Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) die Regierung um Staatspräsidenten Traian Basescu ins Gebet genommen hatten, hatte dieser rigorose Sparmaßnahmen verkündet: Eine Kürzung der Beamtengehälter um 25 Prozent und der Pensionen um 15 Prozent. Daraufhin gingen vor einigen Wochen in Bukarest zehntausende Menschen auf die Straße, um zu demonstrieren. Ab September sollen sämtliche Schulen des Landes, mit weniger als zweihundert Schülern und alle Kindergärten mit weniger als hundert Kindern geschlossen werden. Die gratis U-Bahnzeitung „Adevărul" (Die Wahrheit) konterte mit dem Vorschlag diverse Museen zu schließen - sie würden ohnehin nur von einer Handvoll Touristen und der hauchdünnen rumänischen Oberschicht besucht. Wozu dafür also staatliche Gelder verschleudern? 

Weil sich die geplante Pensionskürzung schließlich als verfassungswidrig herausstellte, wurde kurzerhand die Mehrwertsteuer um fünf Prozent angehoben, um das Budgetloch zu stopfen. Für den Großteil der Rumänen ist das Leben im zweitärmsten Mitglied der Europäischen Union damit zu einem reinen Überleben geworden: Zum Sterben sind die Geldtaschen gerade noch voll genug.

Gestrandet am Straßenrand

Eine Busstation vom Arcul de Triumf entfernt, schälen sich Adrian und Alin aus einem Schlafsack. Zu zweit haben sie die Nacht auf einer Parkbank entlang des Zaunes des größten Parks der Stadt, Herăstrău, verbracht. Während Alin die gemeinsame Morgenzigarette anraucht, fängt Adrian mit den Händen die Tautropfen, die auf den Blättern der Sträucher glitzern zusammen, und wäscht sich damit den Schlaf aus den Augen. Alin spuckt sich in die Hände und wischt über seine weißen Shorts. Dass die beiden seit drei Wochen die selben rosafarbenen T-Shirts und kurzen Hosen tragen, und Nacht für Nacht eine Parkbank und einen Schlafsack teilen, sieht man ihnen nicht an. Sie haben Übung im Leben auf der Straße. 

Ihre Frauen und Babys haben die beiden 23-Jährigen bei den Eltern zurückgelassen. Täglich suchen sie in den Gratiszeitungen nach Jobinseraten. „Entweder, die Stellen sind schon vergeben, oder die Jobs sind Scheiße", sagt Adrian. Vor zwei Wochen hatten sie gemeinsam auf einer Baustelle angeheuert: 50 Lei am Tag, rund zehn Euro - deutlich über dem Durchschnittslohn, der bei monatlich rund 150 Euro liegt.Doch die gute Bezahlung hatte ihren Preis: Zwölf Stunden täglich mit einem Hammer und bloßen Händen einen Häuserblock niederreißen. Sechs Tage die Woche. Adrian schmiss den Job nach einem Tag, Alin hielt eine Woche durch: „Diese Arbeit bringt dich ins Grab", sagt er und zeigt seine Handflächen, die immer noch mit milimetertiefen Löchern übersät sind. Außerdem: „Du kaufst dir zwei Sandwichs, Zigaretten und eine Flasche Wasser und weg sind die 50 Lei, für die du zwölf Stunden lang gebuckelt hast, wie ein Pferd. Es bleibt nichts übrig", sagt Alin. 

Mittlerweile gibt es für die beiden weder Vor noch Zurück: Die Guthaben ihrer Handys sind aufgebraucht, sie haben kein Geld für den Bus, um die Stadt zu verlassen und nach Hause zu fahren. Sie sind auf der Straße gestrandet und lassen sich vom Zufall treiben: „Wir schlafen, wenn wir einen ruhigen Platz finden. Wir essen, wenn und was wir finden, und wenn wir irgendwie an ein bisschen Geld kommen, dann haben wir sogar Zigaretten und einen Becher Kaffee", sagt Adrian. „So ist das Leben in Rumänien", und spuckt auf den Boden. 

Zuschüsse gestrichen

Eine Busstation weiter, Richtung Peripherie, im Schatten des mächtigen Casa Presei Libere (Haus der Freien Presse) schlängelt sich Florin zwischen den stehenden Autos hindurch. In der linken Hand trägt der Zehnjährige einen Hundewelpen, mit dem schmutzigen Zeigefinger der rechten klopft er an die Fensterscheiben und deutet in seinen weit aufgerissenen Mund. Florin hat Hunger. Nur selten wird eines der Fenster der klimatisierten Autos heruntergelassen, um ein bisschen Kleingeld gegen heiße Luft und gutes Gewissen zu tauschen. 

Ein paar Meter entfernt, am Eingang von Herăstrău packen gerade drei Burschen im Alter von etwa zwölf bis vierzehn Jahren ihr Nachtlager ein: Einer faltet die speckigen Decken zusammen, ein anderer stapelt sie auf seinem Kopf. Noch habe sich nicht viel verändert auf den Straßen Bukarests, sagt Costin Nedelcu, Streetworker der österreichischen Hilfsorganisation Concordia, die seit nunmehr fast 20 Jahren Rumäniens Straßenkinder versorgt. „Es sind dieselben Gesichter, die wir seit Jahren kennen." 

Concordia, das Sozialprojekt des Vorarlberger Jesuiten Pater Georg Sporschill ist die einzige Hilfsorganisation in Rumänien, die nicht nur Straßenkinder, Kinder aus sozialschwachen Familien und Waisen, sondern auch Volljährige aufnimmt. Der kommende Winter wird auch für die hiesigen NGOs ein harter: In den vergangenen Monaten sind Mieten, Kosten für Wasser, Strom, Gas und Heizung explodiert. Heizkostenzuschüsse und andere staatliche Unterstützungen wurden gestrichen. Viele Rumänen müssen Kredite aufnehmen, um im Winter nicht zu erfrieren. 

Kinder werden abgegeben

Das Jugendamt rechnet damit, dass in den kommenden Monaten unzählige Kinder in staatliche Obsorge gegeben werden. Staatliche Obsorge - das bedeutet, dass humanitäre Hilfsorganisationen wie Concordia alle Hände voll zu tun haben werden, denn die rumänischen Kinderheime sind voll. Die Zahl der Anträge an das Jugendamt ist vor allem in Regionen mit hoher Arbeitslosenrate, wie der nordöstlichen Region Vaslui, Moldova stark angestiegen. Zum Jahresende werden sie aus dem ganzen Land kommen. 

Der Staat subventioniert die Obsorge eines Kindes mit 79 Lei, rund 20 Euro monatlich. Es werden jedoch lediglich jene Kinder unterstützt, die über das Jugendamt an Hilfsorganisationen vermittelt werden. Im Fall von Concordia, machen diese Kinder gerade einmal rund ein Drittel aus. Der Rest, der rund 500 Kinder, die landesweit in den Concordia-Kinderhäusern leben, sind von der Straße gekommen.

Abwarten und Gürtel noch enger schnallen

Für den Verein, der sich ausschließlich mittels Spenden finanziert, heißt es nun, den Gürtel enger schnallen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist bei so vielen hungrigen Mäulern, die es zu stopfen gilt, deutlich spürbar. Außerdem ziehe eine Steuererhöhung auch immer eine Teuerung nach sich, sagt Bogdan Braicu, Geschäftsführer von Concordia Rumänien. Er rechne mit einem Preisanstieg von insgesamt rund zehn Prozent. „Die Steuererhöhung hat direkten Einfluss auf humanitäre Organisationen wie Concordia, denn wie jede gemeinnützige Organisation, ist Concordia nicht für Mehrwertsteuer-Zwecke registriert, also nicht in der Lage, diese Steuer abzusetzen", sagt Braicu.

Die Organisationen haben genauso wenig wie die Bevölkerung einen Plan B, zu dem sie greifen könnten: Derzeit herrscht in Rumänien gespanntes Abwarten. Das einzige, worauf man sich verlassen kann, ist, dass derart einschneidende Sparmaßnahmen von einem Tag auf den anderen beschlossen und umgesetzt werden. Ohne Vorwarnung. „Und es garantiert niemand, dass es nicht weitere Sparmaßnahmen dieser Art geben wird", sagt eine Bukaresterin. Was bleibt ist der Dinge zu harren, die da noch kommen mögen. (Birgit Wittstock, derStandard.at, 8.8.2010)

Birgit Wittstock, ehemalige derStandard.at-Redakteurin, lebt in Bukarest und ist Mitarbeiterin von Concordia