Mitte der 90er-Jahre stand es für die große Verheißung, das damals noch recht junge Netz der Netze: Es würde unsere in die Jahre gekommenen repräsentativen Demokratien durch direkte Partizipation revolutionieren, die Befreiung vom Elend der uns durch Artikulationsbeschränkungen auferlegten Unmündigkeit würde bevorstehen. Einige dieser utopischen Entwürfe kamen auf der Web-2.0-Welle in den letzten Jahren wieder, wenn auch etwas leiser. Im Trend liegen heute viel mehr die Schmähungen, wie dumm, einsam, nackt uns das Netz nicht mache. Mit "Internet-Bashing", so scheint es, lassen sich gut Magazine und Bücher verkaufen.

Gerade auch der Journalismus, in Form einiger seiner honorigeren VertreterInnen, jault auf, liefert sich im Feuilleton ein Rückzugsgefecht mit dem Internet, bei dem er sich stets seiner eigenen Relevanz im Kontrast zu dem "unprofessionellen Treiben" im Netz versichert. Das Verharren in den kommunikativen Schrebergärten (Facebook & Co) des "digitalen Biedermeier" lenke vom Ernst des Lebens ab. Internetnutzer würden sich an den vermeintlichen "Nachrichten" der eigenen Kontakte erquicken, deren Inhalt kaum über die Vermittlung basaler Bedürfnisse und deren Befriedigung hinausginge. Nur der Journalismus könne im Netz der Belanglosigkeiten Halt geben.

Ihrerseits von einer erschreckenden Banalität gekennzeichnet, verkennen diese Kommentare die Prozesse in den angesprochenen Kommunikationsräumen in hohem Maße. Soziale Netzwerksysteme sind effektive Mittel zur Organisation des Alltags, der Pflege persönlicher Beziehungen und Selbstdarstellung, in denen neben den vermeintlichen Banalitäten auch ein reger Austausch zu jenen Themen stattfindet, die wir als "öffentliche" bezeichnen würden. Aktuelle Forschung zeigt, dass in Blogs sowie auf Facebook oder Twitter neben persönlichen Themen auch aktuelles Weltgeschehen und lokale Politik kommentiert und diskutiert wird, ebenso wie Kultur- und Medienereignisse oder das Wetter. Die Berichterstattung der "etablierten" Medien dient dabei oftmals sowohl als Ausgangspunkt für die Online-Gespräche als auch als Ankerpunkt für die Diskurse.

Die Auseinandersetzung mit den Themen öffentlicher Relevanz findet so auch im sogenannten "Web 2.0" oftmals als Anschlusskommunikation zu massenmedialer Berichterstattung statt, wie sie die Kommunikationswissenschaft seit den 50er-Jahren in ihrem "Two-Step-Flow"-Modell öffentlicher Kommunikation beschrieben hat: Der Journalismus berichtet, die Rezipienten verhandeln diese Berichte innerhalb ihres sozialen Umfelds, betten sie in ihre persönlichen Relevanzstrukturen ein und konstruieren dadurch spezifischen Sinn. Der kommunikative Raum hierfür ist als Öffentlichkeit "au trottoire" beschrieben worden, als Raum der persönlichen Auseinandersetzung über das Weltgeschehen im Stiegenhaus, im Wirtshaus, am Gang der Schule.

Im Unterschied zu den "Offline-Gesprächen" findet die Kommunikation im Netz jedoch in (halb-)öffentlichen medialen Räumen statt. Facebook- und Twitternutzer diskutieren Themen innerhalb von je nach Gesprächsverlauf wechselnden Öffentlichkeiten, die sich aus den Beteiligten und deren Kontakten zusammensetzen. Die Themen und Ansichten, mit denen die einzelnen Nutzer konfrontiert werden, können dadurch vielfältiger, der Austausch kann breiter werden - entgegen den vorhandenen Befürchtungen des Rückzugs der Nutzer in persönliche, spezifische Kommunikationsräume.

Weiters bleibt ein Verweis zur ursprünglichen Quelle zumeist vorhanden. Nur einen Klick entfernt dienen Texte, Bilder oder Videos und die mit ihnen verbundenen Intentionen oftmals als direkte Referenzen in den Gesprächen und erhöhen dadurch die Transparenz in der Auseinandersetzung. Die Nutzer eignen sich die journalistischen Produkte dabei insofern an, als sie sie mit eigenen Erfahrungen verschränken oder mit anderen Medieninhalten verknüpfen. Praktiken der Kommentierung und Weiterleitung von Nachrichten sind dabei auch Ausdruck der Identitätsarbeit der Nutzer innerhalb ihrer persönlichen Öffentlichkeiten.

Zudem beteiligen sie sich dadurch an der Distribution der Nachrichten selbst, die auch bei den Medienunternehmen durch steigende Zugriffszahlen auf ihre Artikel nicht unbemerkt bleibt. Bei etlichen redaktionellen Webseiten hat der "Inbound-Traffic" (die eingehenden Besuche) aus Facebook jenen aus Google überholt. So erreichen journalistische Produkte im Umweg über soziale Netzwerke oder Blogs (auch neue) Rezipienten, die zum jeweiligen Bericht den wünschenswertesten Weg gefunden haben, den sich Produktmarketer vorstellen können: die persönliche Empfehlung.

Neben vielem anderen wird das sogenannte "Web 2.0" zunehmend auch zur Artikulation über gesellschaftlich relevanten Themen genutzt, mit dem Potenzial, die Perspektiven ihrer Nutzer zu erweitern. Der Journalismus täte gut daran, seine Rolle nicht im Kontrast zu den neuen Kommunikationsräumen zu suchen, sondern in der intensiven Auseinandersetzung mit ihren Chancen und Herausforderungen. (Axel Maireder, DER STANDARD Printausgabe, 6. Augut 2010)