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Als "universalistischen Sozialdemokraten" bezeichnete sich Tony Judt (im Bild anlässlich eines Vortrags am Kreisky Forum in Wien 2007).

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Das Persönliche ist das Politische. Tony Judt hat diesen Spruch ernst genommen wie selten jemand. Als er bereits an einer unheilbaren degenerativen Nervenerkrankung litt, machte der Historiker letzten Oktober in einer mit Mühe gehaltenen Rede über die Sozialdemokratie und ihre Schwierigkeiten in Amerika folgende Rechnung auf: "Würde ich in Schweden leben, wäre meine Behandlung gratis. Hier in New York kostet sie mich 100.000 Dollar im Jahr."

Zeit seines Lebens richtete der ab 1995 an der New York University lehrende Brite seine Forschungs- und Lehrtätigkeit und seine zahlreichen Publikationen auf wenige zentrale Fragen aus: Was kann eine Kenntnis der Vergangenheit dazu beitragen, dass es in der Zukunft mehr soziale und ökonomische Gerechtigkeit gibt? Wie kann man die sozialen Errungenschaften der letzten hundert Jahre verteidigen bzw. nach ihrer teilweisen Zerstörung wiedererringen? Und wie lässt sich diesseits von totalitären Utopien ein besseres Leben denken?

Einiges an diesem Ansatz war ihm in der Wiege mitgegeben. Tony Judt wurde 1948 als Sohn russischer und belgischer Immigranten in Londons damals überwiegend jüdischem East End geboren. Die Eltern waren Sozialisten und säkulare Zionisten. Von beidem geprägt, volontierte er als Student in einem Kibbuz und half aus, als die Israelis für den Sechs-Tage-Krieg mobilisierten.

Seine sozialutopischen Fantasien erlitten, so sagte er rückblickend, Schiffbruch an den Realitäten der Palästinenserpolitik des jungen Staates. Er studierte Geschichte in Cambridge und Paris, ab 1972 lehrte er an diesen Unis und in Berkeley. Schwerpunkte aufzuzählen fällt schwer angesichts der enzyklopädischen Vielfalt seiner Forschungen. Sie reichen von europäischer Zeitgeschichte bis zur Ideengeschichte der französischen Intelligenzija, von den US-europäischen Beziehungen bis zum Ringen um die "richtige" Erinnerungspolitik.

Mehr als das alles - als "public intellectual" griff er in laufende Debatten ein, erweiterte kurzsichtige Argumente um die historische Dimension, focht gegen dogmatische Verhärtungen und für das Recht derer, die in den großen historiografischen Erzählungen nie vorkommen. Er selber gehört in die Reihe der wichtigen Denker, die er in einem seiner letzten Bücher porträtierte ("Appraisals", deutsch: "Das vergessene 20. Jahrhundert"). Arthur Koestler ist zu ihnen zu zählen, Primo Levi, Albert Camus, Hannah Arendt, Edward Said. Er nahm auch etwa Eric Hobsbawn und Louis Althusser in die Porträtgalerie auf, verschwieg allerdings vor allem bei Letzterem nicht, was ihn störte. Hagiografie war seine Sache nicht, manchen Kollegen war er zu fordernd und anspruchsvoll.

Das 20. Jahrhundert denken

Für sein Opus magnum "Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart" war er bestens vorbereitet. Er kannte viele Länder aus eigener Anschauung, beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen und arbeitete sich in Geschichte und Konflikte der Regionen jahrelang ein - in Österreich als Fellow des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen.

Vieles, was er in den USA, unter anderem als Leiter des Remarque Institute an der New York University, bewegte und erreichte, geriet in den Schatten der Polemik um seine Israel-kritische Haltung. Entsprechend umstritten waren manche seiner Beiträge in den intellektuellen Foren jenseits und diesseits des Atlantiks.

Seit Sommer 2009 gelähmt, an einen Rollstuhl gefesselt und künstlich beatmet, publizierte er nicht nur mit ungeheurem Kraftaufwand in der New York Review of Books seine politische Bilanz und Gedanken über kulturelle Phänomene, die ihn geprägt hatten (www.nybooks.com); Mitte April berief er sogar eine kleine Konferenz an der NYU über die Rekonstruktion des Sozialstaats ein. Zugleich vollendete er mit Kollegen ein letztes Buch, Thinking the Twentieth Century. Und noch Mitte Juli veröffentlichte er einen Beitrag über die verschwindende Fähigkeit, sich präzise zu artikulieren. Fast nebenbei erwähnte er, nüchtern wie immer, seinen eigenen Verlust, sich auch nur noch über das gesprochene Wort seiner Mitarbeiterin verständlich zu machen: "Ich werde mich bald auf die rhetorischen Landschaften meiner inneren Reflexionen beschränken müssen."

Am vergangenen Samstag ist Tony Judt 62-jährig in New York an den Folgen einer amyotrophen Lateralsklerose gestorben. (Michael Freund/DER STANDARD, Printausgabe, 9. 8. 2010)