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Abdelbaset Ali al-Megrahi wurde aus der Haft entlassen.

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Im Streit um die vorzeitige Haftentlassung des einzigen verurteilten Lockerbie-Attentäters las am Sonntag ein schottischer Kardinal den Amerikanern die Leviten.

Das US-Justizsystem sei "von Rachsucht geprägt" , glaubt der Edinburgher Kardinal Keith O'Brien: "Ich lebe lieber in einem Land, in dem Gerechtigkeit durch Gnade gemildert ist als dort, wo Rachsucht und Vergeltung im Vordergrund stehen." Die Amerikaner sollten sich "an die eigene Nase fassen" anstatt die Schotten und deren Justizsystem zu kritisieren.

Der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz in Schottland eröffnet damit eine neue Front im transatlantischen Streit um das Schicksal des vermeintlich todkranken Libyers Abdelbaset Ali al-Megrahi, dessen Fall die Beziehungen zwischen Großbritannien und den USA belastet. In London und Edinburgh reagieren die Verantwortlichen zunehmend gereizt auf Vorhaltungen aus Washington. Megrahis Entlassung habe die Vereinigten Staaten "überrascht, enttäuscht und verärgert" , sagte US-Präsident Barack Obama vergangenen Monat beim Besuch von Premierminister David Cameron.

Dieser lehnt eine neuerliche Untersuchung des Falles ab. Vorladungen eines US-Senatskomitees, das unbotmäßige Einflussnahme des Ölkonzerns BP in der Sache Megrahi untersuchen will, schlugen der schottische Justizminister sowie sein früherer britischer Kollege aus. BP soll für den Libyer interveniert haben, um Bohrrecht im nordafrikanischen Staat zu bekommen.

Attentäter soll todkrank sein

Der libysche Exgeheimagent al-Megrahi verbüßte in Schottland eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen des Flugzeugattentats im Dezember 1988, bei dem 270 Menschen getötet wurden. Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi zahlte den Hinterbliebenen der Opfern Entschädigung, wies die Verantwortung für den Massenmord aber von sich.

Der Edinburgher Justizminister Kenny MacAskill stützte sich für Megrahis Entlassung nicht auf ein umstrittenes Gefangenenaustausch-Abkommen zwischen Großbritannien und Libyen, sondern entließ den an Prostatakrebs Leidenden gnadenhalber: Megrahi habe, so der schottische Nationalist MacAskill im August 2009, laut der Prognose mehrerer Onkologen "nur noch wenige Monate zu leben" . Dass der verurteilte Mörder beinahe zwölf Monate später in seiner Heimat auf freiem Fuß lebt, stelle "eine Beleidigung seiner Opfer" dar, argumentiert das US-Außenamt. (Sebastian Borger aus London/DER STANDARD, Printausgabe, 09.08.2010)