Mehr "Schweinebibel" denn Kochbuch.

Foto: 2010 "Schwein“, UMSCHAU / Florian Bolk

Müller ist ein "Warmwurster", der seine Hausmacherwurst aus Teilen von Schwarte, Füßen und Zunge unmittelbar nach dem Schlachten zubereitet.

Foto: 2010 „Schwein“, UMSCHAU / Florian Bolk

"Ellsässische Schlachterplatte" (D) vulgo "Bauernschmaus" (Ö).

Foto: 2010 „Schwein“, UMSCHAU / Florian Bolk

Glücksschweinchen neben blutiger Schweinehälfte. Der Weg vom hübschen, intelligenten Schwein zum Stück Fleisch auf dem Teller ist für viele ein konfliktbeladener. Der Koch und Fleischhauer Wolfgang Müller lässt seinen LeserInnen keine Chance, die Lebensbedingungen der Schweine und den Prozess des Schlachtens mit dem Kauf eines blutleeren, vakuumierten Supermarkt-Schweinsfilets unter den Teppich zu kehren. "Wir erheben den Anspruch auf bedingungslose Ehrlichkeit". Was H-Block X-Frontmann Hening Wehland seinem guten Freund ins Vorwort von "Schwein" schreibt, wird auf 240 Seiten eingehalten.

Gefleckt, getupft, gestreift

Ungeschönt stellt der ehemalige Küchenchef im Kreuzberger "Horvath" das süße Glücksschweinderl neben das Schlachtprodukt Schwein, doch zuerst erschließen freundliche Farbtafeln das internationale Schweine-Universum: gefleckt, getupft, gestreift, wollig oder glatt präsentieren sich Angler Sattelschwein, Havelländer Apfelschwein, ungarisches Mangalitzaschwein, englisches Berkshire, amerikanisches Duroc, belgisches Pietrain oder italienisches Cinta Senese. Angaben zu Rasse, Charakter, Verwandtschaft, Verwendung in der Küche, Gewicht, Schlachtalter und Ferkel pro Wurf sind in übersichtliche Kästen gepackt. Die Physiologie des Schweins wird anhand von Abbildungen zerlegter Schweinehälften sowie von Kopf, Schulter, Bauch und Rücken, samt Beschreibungen der Funktionen und Verwendungstabellen jedes noch so kleinen Teils dargestellt.

Die Liebe zum Schwein

Die Liebe zum Schwein zieht sich durch Müllers Leben, deshalb ist "Schwein" eher als "Schweinebibel" denn als Kochbuch zu verstehen. Seit mehr als 20 Jahren zelebriert der Autor das Handwerk der feinen, vorwiegend deutschen Küche. Von zwei Dingen hat er sich im Lauf der Zeit verabschiedet: den "überzogenen Ansprüchen der Sterne-Küche" und vom "schlechten Spiel mit dem Quälfleisch". Von ersterem mag oder kann Müller dennoch nicht ganz lassen. In seinen Rezepten kombiniert er Schweinefleisch mit Kaviar, Weinbergschnecken, allerlei Früchten des Meeres oder essbaren Blüten. Schön und vermutlich auch gut. Dass jedoch Gänsestopfleber wiederholt Einzug in seine Kreationen findet und - Überraschung - der Mann mit dem Herz für das Rüsseltier dabei mit keinem Wort auf das mit diesem Produkt assoziierte Tierleid eingeht, widerspricht der Grundhaltung des Buches. Sind Schweine etwa die besseren Tiere?

Unter aller Sau

Für die Umsetzung der Rezepte muss es schon die "Qualität eines quietschfidelen Freilandschweins" sein, vermittelt der Herr über mehrere Apfelschweine seinen LeserInnen. Müller weiß, wovon er spricht: Als Fleischhauer prangert er Diskonter-Schweinsschulter um 1,99 Euro nicht nur wegen des schrumpfenden Volumens in der Pfanne an: "Weit über 95 Prozent aller Schweine in Deutschland leben unter aller Sau. Das Futter ist voll mit Arznei- und Wachstumsmitteln, Lebewesen werden ohne Respekt und Ehrfurcht gehalten, nur um des Profits willen." Allein beim deutschen Schlachtmarktführer Tönnies würden täglich 20.000 Schweine in Akkord geschlachtet und zerlegt. Die meisten davon stammen aus Massentierhaltung.

"Warmwurster"

Müller erhebt nicht den Anspruch, die Welt zu retten, er tut, was er kann. Seine Schweine laufen in der Natur herum und hören auf Namen wie "Sancho" oder "Pancho", "denn ein Leben ohne Namen, das ist wie im Knast", philosophiert der Koch, der seinen Schweinen selbst den Todesstoß gibt. Das geht ihm nach langjähriger Routine immer noch "ans Herz". Zwölf Stunden dauert das Schlachten, was sich auf 26 Seiten im Buch niederschlägt. Logisch, dass Müller das Schwein vom Rüssel bis zum Schwanz verwertet - auch Teile wie Hirn und Herz, die nicht zum offiziellen "Schlachtgewinn" zählen. Das Prinzip der Vollverwertung hebt er auf Spitzenküchenniveau. Was bei Hausschlachtungen üblicherweise in die Schlachtbrühe wandert, transformiert der Schweine-Experte in andere Köstlichkeiten: Müller ist ein "Warmwurster", der seine Hausmacherwurst aus Teilen von Schwarte, Füßen und Zunge unmittelbar nach dem Schlachten zubereitet. Der weich gekochte Kopf wird direkt aus dem Kessel von Knochen und Knorpeln befreit und faschiert, die Leber mit einem Berg Zwiebeln gekocht und ebenfalls durch den Wolf gedreht. Unter Beigabe weiterer Zwiebeln, Majoran, Salz und Gewürzen landet sie als Leberwurst in einer gründlich gereinigten Dünndarmhülle. Den Magen füllt Müller mit Fleisch, Petersilie, Karotten, Kartoffeln und Zwiebeln, den fetten "grünen" Rückenmarksspeck salzt er zu Lardo ein. Das Nierenfett dreht er durch die grobe Scheibe des Fleischwolfs und verarbeitet es mit Zwiebeln, Äpfeln, Majoran, Salz und Pfeffer zu Schmalz.

"Der Kochberuf ist Handwerk"

Müllers Rezepte im "Schwein"-Buch spiegeln zum überwiegenden Teil seine Distanz zum Begriff des Kochens als Kunst: "Der Kochberuf ist Handwerk. Der eigentliche Künstler ist die Natur. Ich sehe mich als jemand, der die Kunst der Natur durch sein Handwerk dem Gast näher bringt." Ein Handwerk, das Müller etwa in Form des siebentägigen Einbeizens von Schwein in Wacholder, Tannennadeln und Rosmarin bei anschließender Lagerung in Buchen- oder Birkenasche vermittelt. Oder in der grundlegenden Anleitung zur Nutzung von Naturdarm. Vieles vom Schwein findet in der zarten Hülle seine Vollendung: Leber, Sülze, Kopf, Blut oder Zunge.

Törtchen von Schweinsnasen

Belegte Brote können unwiderstehlich sein, sofern sie mit Boudin noir und Apfel, Schweinsfilet mit Trüffeln oder gepökelter Schweinszunge mit fritterten Kartoffeln versehen sind. Als Vorspeisen hat Müller Schweinskopfsülze, Terrine aus Schweinsbacken, Törtchen von Schweinsnasen oder einen Salat auf gebackenen Schweinsohren im Repertoire. Als Hauptgänge fährt er Hirnsouffle, glacierte Schweinsfüße auf Rettichgemüse oder Klassiker wie Schwäbische Maultaschen, Berliner Eisbein, Schweinepfeffer, Krustenbraten und Pfälzer Saumagen auf. Oder Spareribs "White Trash" - ein Rezept von Müllers kalifornischem Freund Wally Potts, das dieser in seiner gleichnamigen kulinarischen Pilgerstätte am Prenzlauer Berg zubereitet.

Vollverwertung als Zukunftsvision

Um an den größten Teil der schweinischen Zutaten aus Müllers Buch zu gelangen, bedarf es eines Fleischhauers des Vertrauens. Rüssel, Backen, Lunge & Co. zählen in unserer Esskultur schon lange nicht mehr zum Standardrepertoire der zu verkochenden Schweineteile und werden meist zu Futter für fleischfressende Haustiere verarbeitet. Müllers "Schwein" mag gegenwärtige Tendenzen zur Hausschlachtung und Vollverwertung dahingehend verstärken, dass auf die Tasse frischen Schweineblutes für die Sauce zum Schweinepfeffer in Zukunft nicht verzichtet werden muss. (Eva Tinsobin, derStandard.at, 10. August 2010)