An der Uni Wien herrschte um 1900 ein erstaunlich reger Austausch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.

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Adolf Stöhr, Universalgelehrter. Foto: Österr. Volkshochschularchiv

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Die Historikerin Irene Ranzmaier untersucht, wer damals welche Karriere machte.

Im heutigen Wissenschaftsbetrieb ist Interdisziplinarität oft mehr Rhetorik als Realität. Ende des 19. Jahrhunderts gab es den Begriff noch gar nicht. Dies hielt Adolf Stöhr (1855-1921) aber nicht davon ab, an der Universität Wien Jus, Philologie, Medizin, Botanik, Chemie und Zoologie zu studieren und 1880 mit dem Hauptfach Botanik zu promovieren.

Die Habilitation erfolgte 1884 in theoretischer Philosophie, im Jahre 1900 wurde Stöhr Extraordinarius für Philosophie mit Lehrauftrag für experimentelle Psychologie und schließlich 1910 Ordinarius für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Sprachphilosophie.

Hundert Jahre später, im Zeitalter von Bologna, Credit Points und strengen Studienplänen, ist eine derart vielfächrige Karriere ebenso wenig möglich wie das Oszillieren zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Hier klafft bekanntlich die Kluft zwischen den "zwei Kulturen".

Unter einem einzigen Dach

Dabei wird oft vergessen, dass an vielen Universitäten die harten wie die weichen Wissenschaften Teil einer Fakultät waren, der Philosophischen nämlich, an der Universität Wien sogar bis 1975. Dieses gemeinsame Dach für Physik und Philologie, für Geologie und Geschichte ermöglichte Karrieren wie jene Stöhrs – und ist der Fokus der Wiener Historikerin Irene Ranzmaier in ihrem FWF-Projekt "Interdisziplinäre Aspekte wissenschaftlicher Differenzierung. Die Philosophische Fakultät der Universität Wien um 1900".

Wie differenzieren sich universitäre Fächer aus? Welche Disziplinen entstehen neu, welche verschwinden wieder? Eine Schlüsselrolle kommt dem Professorenkollegium der Fakultät zu, das weitgehend autonom über die eigenen Belange entscheiden konnte.

Ranzmaier konzentriert sich auf die akademischen Karrieren von insgesamt 77 Professoren. In ihrem Sample finden sich noch heute bekannte Physiker wie Franz Exner, Ernst Mach und Ludwig Boltzmann sowie der Chemiker Adolf Lieben, aber eben auch weitgehend vergessene Philosophen wie Adolf Stöhr. Im Studium war die Interdisziplinarität gleichsam institutionalisiert, so Ranzmaier: "Es gab keinen Studienplan und somit sehr viel Freiheit." Und ab 1872 mussten alle ein Nebenrigorosum in Philosophie absolvieren.

Man soll freilich das damalige Studium auch nicht romantisieren. Ranzmaiers Forschungen zeigen etwa, dass es die "zwei Kulturen" schon Ende des 19. Jahrhunderts gab und diese – meist friedlich – nebeneinander existierten.

Eine These der Universitätshistoriker besagt, dass weniger etablierte Wissenschafter innovativer seien – was fruchtbare Ansätze und das Schaffen neuer Forschungsfelder angeht – als etwa Lehrstuhlinhaber, die quasi schon alles erreicht haben und daher konservativer agieren. Diese These konnte Ranzmaier für die Uni Wien bisher nicht bestätigen. Viele der Extraordinarien waren mit dem Unterrichten von Lehramtskandidaten mehr als beschäftigt.

Insgesamt hielten sich die disziplinären Innovationen in Grenzen. Im Untersuchungszeitraum, also den Jahren 1890 bis 1910, entstanden nur zwei neue Fächer: die Urgeschichte und das Vermessungswesen. Die etablierten Fächer suchten die Nischen selbst zu besetzen.

Ranzmaier möchte herausfinden, wie die Hierarchien in der Philosophischen Fakultät mit sozialer Herkunft oder politischer Einstellung der Forscher korrelierten. Und welche Bedeutung die Konfession für akademische Karrieren hatte – galt doch die Uni Wien als katholisch.

Doch für die Zeit um 1900 ist die Bevorzugung von Katholiken gegenüber Protestanten und Juden zumindest in ihren Quellen kaum greifbar. Allenfalls in der Korrespondenz zwischen Erziehungsministerium und Kaiser (der das letzte Wort bei Berufungen hatte) heißt es sinngemäß, "ist zwar Protestant, aber auf seinem Gebiet eine Koryphäe". "Es herrschte anders als dann in den 1920er-Jahren eher ein liberales Wissenschaftsverständnis", so Ranzmaier. Dies zeige sich etwa auch an der Offenheit gegenüber der Evolutionstheorie. Der Zoologe Berthold Hatschek galt zwar als "Hyperdarwinist", habilitiert wurde er 1881 dennoch.

Zurück zu den Quellen

Das Projekt ist hinsichtlich seiner Quellengrundlage Knochenarbeit. Ranzmaier arbeitet sich durch Lebensläufe, Sitzungsprotokolle, Berufungsakten, Korrespondenz zwischen Fakultät, Ministerium und Kaiser. Die Handschriften sind zum Teil so schwer zu entziffern, dass schon damals Abschriften angefertigt wurden. Auch wenn dieser Teil der Arbeit mühsam ist – Ranzmaier gefällt das. "Ich bevorzuge Themen, zu denen es fast noch keine Sekundärliteratur gibt und man als Erste an die Quellen kommt. (Oliver Hochadel/DER STANDARD, Printausgabe, 11.08.2010)