Wie bedeutsam sind freiwillige Vereinbarungen in der Europäischen Union, wo findet politische Koordination statt, und wie gefährlich kann die Unionsbürgerschaft für den Kontinent werden? Eine Replik.

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Am 30. Juli erschien an dieser Stelle der Beitrag "EU-Integration: Impulse aus Irrläufen" von Marcus Klamert. Seine Feststellung, wonach viele Maßnahmen einer künftig engeren Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik keine Änderung der geltenden EU-Verträge verlangen würde, stimmt. Die Möglichkeiten bestehen, aber eben im Rahmen der existierenden Verträge.

Klamerts Argument, dass diese Maßnahmen aber "auf freiwilliger Basis bzw. einstimmig erfolgen und nicht zu EU-Recht werden" , ist falsch. Entweder es geschieht etwas "freiwillig" (dann hat es aber keinen rechtspolitischen Bestand bzw. ist einfach "Schönwetterpolitik" , die jederzeit widerrufen werden kann) oder eben "einstimmig" (dann kann es aber auch gleich verbindliches, durchsetzbares Recht werden). Eine wirksame europäische Wirtschaftspolitik auf Basis "freiwilliger" Absprache je nach Lust und Laune funktioniert jedenfalls nicht.

Noch unverständlicher ist der Hinweis, wonach bereits "eine verstärkte, freiwillige Koordination in der EU" zu beobachten sei. Wo und wann? Der Autor meint wohl die Möglichkeit der "verstärkten Zusammenarbeit" nach Titel III des Vertrages über die Arbeitsweise der EU.

Ein Blick in den Vertrag zeigt, dass dies nur unter vielfältigen Voraussetzungen möglich ist. Die Ermächtigung dazu wird vom Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erteilt. Es gibt bis jetzt nicht einmal einen Antrag von Mitgliedstaaten an die Kommission, einen solchen Vorschlag anzudenken. Von verstärkter (freiwilliger) Zusammenarbeit im Bereich Wirtschaftspolitik also keine Spur.

Dem nicht genug, macht sich Marcus Klamert auch noch gleich über die "Unionsbürgerschaft" her. Er identifiziert sie als Einfallstor für in die EU strömende Drittstaatsangehörige (explizit nennt er Chinesen, Serben und Moldawier) und somit als potenzielle "Baustelle" für künftige Rechtsangleichungen. Unionsbürger nach Art. 20 AEUV ist, wer die Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats besitzt. Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten, insbesondere das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

Doppelstaatsbürgerschaften

So weit, so gut. Klamert begeht in der Folge jedoch einen klassischen Fehler und übersieht, dass diese Rechte nur im Rahmen der bestehenden Freizügigkeitsbestimmungen bestehen. Man kann sich eben nicht "einfach so" in ein anderes EU-Mitgliedsland begeben.

Sein eigentliches Bedrohungsszenario sind "Doppelstaatsbürgerschaften" . Er übersieht jedoch, dass in vielen Staaten Doppelstaatsbürgerschaften gar nicht möglich sind (beispielsweise indem man mit der Annahme einer neuen Staatsangehörigkeit automatisch die österreichische verliert) oder aber - wie etwa in Spanien - spanischstämmige, in Lateinamerika lebende Personen zwar weiterhin die spanische Staatsbürgerschaft besitzen, ihre Rechte und Pflichten aber ruhend gestellt sind.

Schließlich entpuppt sich auch das angeführte Urteil "Chen" (EuGH C-200/02 vom 18. 5. 2004) bei nähere Betrachtung als gar nicht so große Sensation: Eine minderjährige Unionsbürgerin im Kleinkindalter, für die eine Krankenversicherung zur Abdeckung aller Risiken besteht und die durch die Eltern über ausreichende Existenzmittel verfügt (womit ausgeschlossen ist, dass sie die Finanzen eines anderen Mitgliedstaats belastet), hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufzuhalten. Ihre chinesischstämmige Mutter darf sie dabei zum Zweck der Obsorge begleiten (auch sie hat eine Versicherung und genügend Vermögen).

Und? Der Ansturm von Millionen arbeitssuchender Chinesen wird dadurch jedenfalls nicht zu erwarten sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 11.8.2010)