Xavier Le Roy

Foto: Luc Vleminckx

Wien - Der hochgewachsene Mann steht mit dem Rücken zum Publikum und beginnt sich zu verbiegen, zu krümmen, zu verkrampfen. Lautlos und langsam. Er wendet sich zur Seite, jede Sehne seines Körpers ist angespannt, seine Finger ähneln den Klauen eines Raubvogels.

So sieht der japanische Butô aus. Er ist keine Entspannungsübung. Der Mann ist Xavier Le Roy, einer der wichtigsten europäischen Choreografen. Das Stück heißt Product of Other Circumstances. Sobald das Eröffnungssolo geendet hat, entspannt sich der Tänzer und begrüßt sein Publikum. Damit beginnt eine packende Erzählung über ein künstlerisches Abenteuer.

Im Vorjahr nahm Le Roy die Einladung seines Kollegen Boris Charmatz an, ein Stück über Butô zu machen. Charmatz, Leiter des choreografischen Zentrums im französischen Rennes, das er in ein experimentelles Musée de la danse umgewandelt hat, hatte Le Roy daran erinnert, dass er gesagt haben soll: Man brauche nur zwei Stunden, um ein Butô-Tänzer zu werden. Diese saloppe Behauptung ist zum Ausgangspunkt für das nun von Impulstanz im Kasino am Schwarzenbergplatz präsentierte Stück geworden. Das Publikum folgt Xavier Le Roy, der den von Tatsumi Hijikata erfundenen Tanz nie zuvor praktiziert hatte, auf seinem Weg zum Butô- Tänzer. Was da als lockere, unprätentiöse Erzählung mit Videos aus dem Internet und Tanzbeispielen daherkommt, ist das Produkt einer genauen Dramaturgie - und einer Geschichte, die vor zwölf Jahren in Wien begonnen hat.

Damals wurde Le Roy als unbekannter Choreograf von den Festwochen eingeladen, für deren Projekt Body Currency ein Stück über den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst zu erarbeiten. Kuratorin war Hortensia Völckers, heute Leiterin der deutschen Bundeskulturstiftung.

Von der Biologie zum Tanz

Das Stück hieß Product of Circumstances und war die erste choreografische Lecture-Performance, die Wien bis dato gesehen hatte. Le Roy erzählte darin über seinen Wechsel von der Mikrobiologie zum Tanz. Damals wurde der Vorwurf laut, das sei aber kein Tanz. Ein Vorwurf, der seinerzeit auch einer Mary Wigman gemacht wurde, die heute als Säulenheilige des deutschen Expressionismus verehrt wird.

Bei Product of Other Circumstances ist nun die Frage, ob das nun Tanz ist oder nicht, keine mehr. Auch das Lecture-Performance-Sequel trifft den Nerv seiner Zeit. Damals ging es darum, ob ein Wissenschafter tanzen darf oder ob er als Dilettant abgestempelt wird. In der neuen Arbeit handelt Le Roy die Frage ab, wie frei ein Künstler innerhalb seiner Kunstform navigieren kann, wie er sich mit Neuem auseinandersetzt und wie er mit Kunstmythen umgeht.

Und Butô ist ein solcher Mythos. Der sogenannte "Tanz der Finsternis" kann nach jahrelangem Training wahre Virtuosen der Verspannung hervorbringen. Weniger bekannt ist, dass er keine spezifische Technik kennt und auch von ganz untrainierten Körpern ausgeübt werden kann.

Also dann: Butô-Tänzer in zwei Stunden? Xavier Le Roy gibt zu, dass er für sein Stück viel länger gearbeitet hat. Aus diesem Scheitern ist ein großartiger Abend geworden. Begeisterter Applaus beim Premierenpublikum. (Helmut Ploebst / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.8.2010)