Menschliche Abgründe aufzeigen und tief verankerte Berührungsängste zwischen Generationen, weltanschaulichen Lagern und Zivilisationen abbauen:Doron Rabinovici.

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Der in Israel geborene Ethan Rosen, Protagonist des neuesten Romans von Doron Rabinovici, ist ein arrivierter Soziologiedozent und Kulturwissenschafter, der seit drei Jahren in Wien arbeitet und sich dort nun um eine Professur bewirbt. Im Flugzeug von Tel Aviv nach Wien entdeckt er in einer österreichischen Zeitung einen Nachruf, den eigentlich er für dieses Blatt hätte schreiben sollen, aber abgelehnt hatte, weil es sich bei dem Verstorbenen um Dov Zedek, einen alten, fast väterlichen Vertrauten handelte, anlässlich dessen Beerdigung Ethan soeben nach Israel gereist war. Der von einem Österreicher stammende Nachruf wirkt derart in ihm nach, dass er einen Gegenartikel verfasst, dessen Veröffentlichung ungeahnte Konsequenzen hat.

Der Wissenschafter gerät nicht nur in eine hitzig geführte öffentliche Debatte, sondern muss auch erfahren, dass sein kritisiertes Gegenüber ein ihm unbekannter Fachkollege und ebenfalls potenzieller Anwärter auf die freie Professorenstelle ist. Als besonders bitter stellt sich heraus, dass sich der Kontrahent namens Rudi Klausinger in seinem Nachruf auf Argumente stützt, die Ethan einst selbst trotz aller Verbundenheit gegen den Israel- und "Niemals vergessen!" -Aktivisten Zedek ins Feld geführt hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hat der Roman auf seinen ersten 40 Seiten, in denen der leitmotivische Nachruf-Streit einen ersten Höhepunkt erreicht, bereits ordentlich an Fahrt gewonnen. Parallel wird der Leser in eine beginnende Liebesgeschichte zwischen Ethan und der Flugbekanntschaft Noa Levy verwickelt und in eine skurrile Welt hineingezogen, in der es von Verwechslungen, Identitätsbrüchen, ideologischen und religiösen Zwistigkeiten sowie Kulturschock-Erlebnissen nur so wimmelt. Zu guter Letzt wird deutlich, dass wir uns in einer Erzählung wiederfinden, die im Kern eine von vielen Geheimnissen umwobene Familiengeschichte ist.

Dreh- und Angelpunkt dieser Familie ist der kranke, gütige "Patriarch" Felix Rosen. Aus Wien stammend, hat er als einziger seiner engeren Familie die Verfolgungen der Nazis überlebt und nach Palästina flüchten können. Dort lernt er seine zukünftige Frau, die ebenfalls aus Österreich vertriebene Dina, kennen. Vom Kibbuz aus avanciert er zu einem erfolgreichen, global agierenden Geschäftsmann.

Die Geschäfte sind es, die Felix und Dina mit ihrem "Bub" Ethan in den 1960er-Jahren zurück nach Österreich verschlagen. Nach prägenden Kindheitsjahren in Wien führt das berufliche Wirken des Vaters die Familie unter anderem weiter nach Paris, London und New York. In dieser Welt reift Ethan zu einem polyglotten Kosmopoliten heran, der allerdings nirgends zu Hause ist, am wenigsten scheinbar in Israel, wo er vor seiner Wiener Dozentur an der Universität Tel Aviv gelehrt hat, in jener Stadt also, in der sich mittlerweile auch seine Eltern auf ihr Altenteil zurückgezogen haben und die schließlich auch zum Hauptort des erzählerischen Geschehens wird.

Familiäre Konflikte

Denn dorthin sind kurz nach dem Wiener Nachruf-Skandal aufgrund der schlechten Nachrichten über Felix' Gesundheitszustand Ethan und Noa gereist. Hier überschlagen sich die Ereignisse, indem plötzlich auch Klausinger am Krankenbett steht und behauptet, nach langen Recherchen herausgefunden zu haben, dass Felix sein leiblicher Vater, d. h. Rudi das Produkt eines Seitensprungs zwischen Felix und der Sekretärin Karin Klausinger aus Wien-Favoriten sei. Der alte Rosen bejaht dies.

Doch dies ist noch längst nicht der letzte Überraschungseffekt des Romans. Im Zwist der vermeintlichen Brüder, in den ambivalent auch Noa gerät, brechen die familiären Konflikte erst richtig hervor. Am Ende scheint keiner dieser ohnehin chamäleonhaften Identitäten mehr zu wissen, wer er wirklich ist. Das Tohuwabohu ist perfekt, als sich durch das Betreiben eines obsessiv besessenen Rabbiners, der den Messias klonen will, herausstellt, dass Ethan von Felix' Freund Dov Zedek gezeugt wurde und Rudi doch nicht der Sohn von Felix ist: das Ganze ein Tollhaus, erbaut aus Sehnsüchten und (familären Not-)Lügen, nur um sich eine halbwegs erträgliche Existenz vorzugaukeln.

Mit Andernorts legt der 1961 in Tel Aviv geborene, seit 1964 in Wien lebende Doron Rabinovici ein beeindruckendes (fraglos auch autobiografisch inspiriertes) Stück Literatur vor, das in sehr viele Richtungen weist. In seinem (selbst)ironischen Aberwitz erinnert es manchmal, vor allem in Bezug auf die von einem Reagenzglas-"Meschiach" erhoffte Erlösungsutopie, an den Roman Der Erfinder (1987) des Wiener Hitler-Vertriebenen Jakov Lind (1927- 2007), entfernt auch an Das Alphabet des Juda Liva, den 1995 erschienenen Erstling des deutschen Autors Benjamin Stein (Jg. 1970). Dennoch bewahrt Rabinovici, der auch Historiker ist, seine ganz eigene Stimme und fokussiert (wie sein Kollege Robert Schindel, dem er offenbar in der Figur des Mickey Scheffler einen pointierten Kurzauftritt verschafft) seinen Blick auf die Gegenwart in Österreich und Israel/Palästina sowie die Geschichte der Opfer, das Schicksal und (seelische) Befinden von deren Kindern und Kindeskindern.

Bruchlinien

Souverän - besonders im Erzählaufbau, nicht immer im sprachlichen Detail - gelingt es dem Schriftsteller, menschliche Abgründe aufzuzeigen und damit gewissermaßen auch tief verankerte Berührungsängste zwischen verschiedenen Generationen, weltanschaulichen Lagern und Zivilisationen abzubauen, d. h. "den Bruchlinien entlang" einen Dialog zu ermöglichen, wie er - auch nach dem Tod der letzten Holocaust-Überlebenden ("Hitler besiegen" ?) - gerade für die Jugend eines Hüben-wie-Drüben brisanter kaum ausfallen kann. (Volker Kaukoreit, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 14./15.08.2010)