Allerorts wird - aus mehr und weniger berufenen Mündern aus Politik, Journalismus, Juristenkreisen, besonders solchen des öffentlichen Rechts - die gleiche Frage gestellt: Behandelt der (gegenderte) Staatsanwalt in Österreich alle gleich? Macht er Unterschiede zwischen Otto Normalverbraucher und (Wirtschafts-)Prominenz, zwischen Politikern und Non-Politikern, zwischen regierenden und oppositionellen Politikern? Oft genug wird diese Frage erst gar nicht gestellt, sondern unterstellt und sofort mit einem Lamento beantwortet.

Die Böswilligen meinen, er mache diese Unterschiede im (vorauseilenden) politischen Gehorsam, er wolle seine Karriere nicht gefährden. Die großen Beamtenkritiker stellen in den Raum, es interessiere ihn nicht, er wolle oder könne nicht. Die Verständnisvollen betonen: Ja wie soll er denn mit knapp 300 operativ tätigen Staatsanwälten in Österreich; mit einer Korruptionsstaatsanwaltschaft, der ungefähr ein Zehntel der Ressourcen ihrer Schwesterbehörde in der Schweiz zur Verfügung steht?

Keiner stellt die Frage, die sich gerade den Parlamentariern und den Verfassungsrechtlern aufdrängen müsste: Handelt er gesetzmäßig? Erfüllt er seinen in Verfassung und Strafprozessordnung definierten Auftrag? Oder mit dem ganzen Pathos der angelsächsischen Rechtssprache: Respektiert und verhilft er dem "Rule of Law" zum Durchbruch? Wenn er es tut - und er tut es und ist niemandem gefällig -, macht dann nicht das Gesetz und nicht er seine kleinen und nicht ganz so feinen Unterschiede in der Behandlung der Bürger?

In der Verfassung steht: Nur der Staatsanwalt ermittelt und klagt an. In den ersten Paragrafen der Prozessordnung ist der Ermittlungsauftrag an den Staatsanwalt (und seinen Vertreter, die Kriminalpolizei) festgelegt: Sobald (§1) er vom Verdacht einer Straftat weiß, muss (§2) er alles tun um Schuld oder Unschuld (§3) eines Verdächtigen herauszubekommen. Greift er (etwa durch Haft, Hausdurchsuchung, Telefonüberwachung) in Grundrechte ein, darf er dies nur in der exakt festgelegten Art ,und auch das nur, wenn es gar nicht anders geht (§ 5). Wenn ein Fall so weit geklärt ist, dass eine Verurteilung nahe liegt (§210), hat er anzuklagen, den Talar anzuziehen und den Fall vor Gericht und damit an die Öffentlichkeit zu bringen.

Liegt keine Verurteilung nahe, hat seine Robe im Schrank zu bleiben und der Ermittlungsakt im Archiv zu verschwinden - und das bei vollem Geheimnisschutz, damit durch (weitere) Spekulationen über Verdachtslagen der Rechtsfriede nicht zusätzlich irritiert wird.

Um es auf den Punkt zu bringen: Er muss zunächst entscheiden, ob an einem Vorwurf überhaupt so viel dran ist, dass Ermittlungen gerechtfertigt sind, und dann, ob er das Gericht Recht sprechen lassen muss - oder er hat für immer zu schweigen.

Gilt dieser laufende Diagnoseauftrag (welcher Verdacht reicht für Ermittlungen, Haften, Anklagen usw.) für jeden im Staat ohne Ansehen von Rang, Namen, Beruf, Funktion, Nähe zur Politik? Fraglos! Da sind sich alle, auch die heftigsten Kritiker der Staatsanwaltschaft, einig.

Bloß: Die Politik ist nicht den ganzen Weg gegangen, sie hat dem Staatsanwalt diesen mehr als spannenden Diagnose- und Prognoseauftrag verpasst, frei nach dem Anton-aus-Tirol-Motto: "Du bist so schön, du bist so toll, du bist der Richtige, um zu wissen, welcher Verdacht Ermittlungen, Haften, Anklagen rechtfertigen kann." Nur wenn es wirklich um etwas oder um jemanden von Bedeutung geht (§8 Staatsanwaltschaftsgesetz), dann muss er bei der Politik um Erlaubnis fragen. Dann hat er sein Vorhaben im Detail darzulegen und dem Regierungsmitglied Justizminister zur Genehmigung vorzulegen.

Nochmals zusammengefasst: Der völlig korrekt in der Politik geborene gesetzliche Auftrag an den Staatsanwalt gilt für alle, aber für die Prominenz im Lande (mit natürlicher Nähe oder Identität zu und mit politischen Entscheidungsträgern) bloß mit der aufschiebenden Bedingung, dass die Politik grünes Licht gibt. Das ist ein offenkundiger Verstoß gegen das Prinzip der reinen Rechtslehre unseres Verfassungsvaters Kelsen, wonach das Recht von der Politik geschaffen wird, die Anwendung des Rechtes aber rein von der Politik zu sein hat.

Keine Weisung aus Willkür

Jetzt liegt der Schaden keineswegs darin, dass dieses grüne (und alle Jubeljahre, wenn es juristisch geboten ist, auch rote) Licht nicht gegeben würde. Die Beamten im Justizministerium, die alle als Richter und Staatsanwälte ihre Berufserfahrung gesammelt haben, wissen, was das Gesetz gebietet. Auch die politischen Entscheidungsträger, der (oder die) aktuelle MinisterIn, fürchten wie der Teufel das Weihwasser, gegen die gesetzlich gebotenen Entscheidungen ihrer Beamten zu weisen und derart auch nur den Eindruck zu erwecken, politisch motiviert Ermittlungen zu beeinflussen.

Der Schaden liegt auch nur zum geringen Teil im teilweise dramatischen Verzögerungseffekt. Bis das grüne Licht da ist, bis sich in der Berichtskette bis ins Ministerium (das können bis zu acht Köpfe sein, bevor der Akt am Ministerschreibtisch landet, um womöglich dort seiner Entscheidung zu harren) in komplexen Fällen jeder seine Meinung gebildet und formuliert hat, vergehen Wochen, manchmal Monate, immer wieder Jahre (Ortstafeln). Diese Verzögerung ist der perfekte Nährboden für mediale und politische Spekulationen.

Der wahre Schaden liegt vielmehr in der Signalwirkung dieses Strukturbruchs: Das große Vertrauen der Politik in die Fähigkeiten des Staatsanwaltes, dass er der Richtige für die Überantwortung dieser besonders heiklen im Rechtsstaat absolut notwendigen Mission ist, findet dort sein Ende, wo es an die eigenen Interessen gehen könnte.

Die erste lösungsorientierte Frage zum Imagedefizit des nur im gesetzlichen Auftrag tätigen Staatsanwalts muss daher frei von jeder Polemik lauten: Wie soll die Bevölkerung Vertrauen fassen, dass nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch vor dem Staatsanwalt alle gleich sind, wenn es die Politik als ihr Repräsentant nicht fertigbringt? (Wolfgang Swoboda/DER STANDARD Printausgabe, 16.8.2010)