Vermittlungsversuche zweier Flics: Michel Vuillermoz und Mathieu Anmalric müssen sich in "Les herbes folles" über die Folgen eines Taschendiebstahls wundern

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Wien - "Manchmal sind es ganz banale Dinge, die ..." An dieser Stelle gerät der leicht verwirrte Off-Erzähler ins Grübeln und lässt den Zuschauer darüber im Unklaren, was er gemeint haben könnte: "... nun ja, Sie werden selbst sehen." Fortsetzen aber ließe sich der Gedanke auch ohne ihn: Banale Vorgänge haben ungeahnte Konsequenzen, sie bringen neue Möglichkeiten hervor, die wiederum ungewöhnliche Verbindungen schaffen. Ein ganzes Universum vermag letztlich aus nur einer Abweichung zu entstehen.

Derartige Koinzidenzen, zufällige Zusammentreffen von Ereignissen, sind im Werk des französischen Filmemachers Alain Resnais eine Konstante. Er liebt es, wenn es unsicher wird. Zu Beginn seines neuen Films "Les herbes folles" - im Deutschen ein wenig plump "Vorsicht Sehnsucht" betitelt - geht eine Frau elegante Schuhe einkaufen; kaum hat sie das Geschäft verlassen, wird ihr die Handtasche von einem Dieb gestohlen. Das entrissene Objekt beschreibt in der Hand des Übeltäters einen Bogen - ein Bild, das wie eine Erinnerung an den Anfang des darauffolgenden Durcheinanders mehrmals im Film wiederkehrt.

Resnais, der in diesem Juni 88 Jahre alt geworden ist und doch so viele seiner jüngeren Kollegen an Übermut und Frische übertrifft, bevorzugt stets die weniger nahe liegenden Anschlüsse einer Erzählung. So überrascht es nicht, dass in "Les herbes folles" nicht das Delikt im Vordergrund steht, sondern eine nach allen Regeln der Romantic Comedy sonderbare Bekanntschaft, die aus diesem Vorfall indirekt hervorgeht.

Georges (André Dussollier) findet die Brieftasche der Überfallenen und misst dieser Entwicklung von Beginn an ein eigenwillig hohes Maß an Bedeutung zu: Wie bringt er das Gut an seine Besitzerin Marguerite Muir (Sabine Azéma) zurück? Wie wird sie auf ihn reagieren? Was darf er sich von dieser Frau erhoffen, die einen Pilotenschein bei sich trägt? Man ahnt es gleich: In diesem äußerlich recht geordnet wirkenden Herrn in gesetztem Alter lauert ein Hang zu manischem Verhalten.

"Les herbes folles" basiert wie jeder Spielfilm von Alain Resnais auf einer Vorlage, in diesem Fall auf "L'incident", einem Roman des im Deutschen noch eher unbekannten Franzosen Christian Gailly. In einem Interview sprach der Regisseur davon, dass ihm vor allem das Prinzip "des Begehrens eines Begehrens" angezogen habe, also die Art und Weise, wie sich Georges Gedanken - an denen wir fragmentarisch Anteil haben - an Marguerite heften. Oder besser: an seine Vorstellung von ihr. Das Wort Obsession ist in diesem Fall nicht zu hoch gegriffen.

Dies lässt "Les herbes folles" abgründiger als andere späte Arbeiten Resnais' wirken, etwa der Alan-Ayckbourn-Adaption "Herzen" (2006) oder der musikalischen Revue "Das Leben ist ein Chanson" (1997). Die Freude an der boulevardesken Form bleibt jedoch bestehen. Das leichte Taumeln, das Figuren befällt, die sich an keine moralischen Grundsätze halten, gerät hier zur bedrohlichen Schieflage, die aus dem Spiel von Attraktion und Zurückweisung eine ernste Angelegenheit des Lebens macht.

Verwirrende Signale

Sie wird auch nicht einfacher dadurch, dass die beiden zentralen Charaktere überwiegend irrational handeln. Einmal lässt sie Resnais einen Schauplatz durchschreiten, der an ein neondurchtränktes Edward-Hopper-Gemälde erinnert, ein Kino leuchtet im Hintergrund verführerisch, aber der Moment der romantischen Auflösung will auch an diesem Ort nicht kommen. Etablierte filmische Erzählmuster verwendet der Regisseur stets als Bausteine, die er gegen eingeübte Sehgewohnheiten in Stellung bringt - selbst das Signal "Fin" kommt hier an falscher Stelle.

"Les herbes folles" heißt "wildes Gras", es wächst dort, wo es nicht hingehört, zwischen Pflastersteinen beispielsweise. Ein Bild dieses Wildwuchses geistert auch durch den gleichnamigen Film, der ungezähmt auch in dem Sinne ist, dass er sich für keine eindeutige Tonart entscheiden will. Die Komödie hat hier eine gefährliche Schlagseite, die die Eigenschaften des Menschen, ihr Begehren roher und ungestümer zum Ausdruck bringt. Georges und Marguerite, die mit Fortdauer des Films immer fahriger wirken, sind Getriebene im Sturzflug.

Vieles ließe sich aus dieser Neigung zum Chaos ablesen, ein Bild für die Unberechenbarkeit des Geistes beispielsweise. Doch Alain Resnais meidet alle Eindeutigkeiten: "... nun ja, Sie werden selbst sehen." (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.8.2010)