Matt Berninger schließt wieder einmal die Augen. Der Sänger von The National versenkt sich derart in der Wiener Arena in eines seiner Lieder. Das Publikum ist begeistert.

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Sympathisches Understatement und eine druckvolle Band lösten diese Verheißung ein.

Wien - Olfaktorisch betrachtet war der Abend eine Zumutung. Zumindest hinten links. Das an sich stimmungsvolle Open-Air-Gelände der Wiener Arena, das an diesem Abend auch von der Band The National als solches gewürdigt wurde, verströmte dort wieder einen Geruch, der seine Trägerelemente bei der Tierkörperverwertung, feuchten Mauern und verstopften Herrentoiletten zu beziehen scheint - und das schon seit langem. Nach einer Verlagerung nach rechts, vorbei an anderen Geruchsquellen wie Wurststand und Fritteuse, stand am Mittwoch dem Genuss von insgesamt vier Bands nichts mehr in den Nasenwegen.

Wobei drei davon im Normalfall in Clubs spielen würden, die vom Headliner später ebenfalls erwähnt wurden: im Chelsea oder im B72. Kleine Veranstaltungslokale am Wiener Gürtel, in denen die US-Band The National ihre Wien-Karriere in den mittleren Nullerjahren begonnen hat. Mittlerweile ist sie ein großer Name im Independent-Rock, der Boss, Bruce Springsteen, gehört ebenso zu den bekennenden Fans wie R.E.M.-Kopf Michael Stipe. Kein Wunder, dass in diesem Fahrwasser auch die Vorbands The Kissaway Trail, die britischen Arcade-Fire-Fans Fanfarlo und The Low Anthem in den Genuss von über 3000 Zuhörern gekommen sind.

Wobei gerade The Low Anthem mit ihrem streckenweise sehr ruhigen Lagerfeuer-Folk an die Grenzen der Publikumsaufmerksamkeit gestoßen sind - an jene der Ignoranz. Immerhin gelang es dem Quartett aus Providence, Rhode Island, mit ein paar dazwischengeschobenen Country-Blues-Rumplern ihre Wehrhaftigkeit zu beweisen. Dass sie dabei an die leider nie größere Bekanntheit erlangt habenden Stumpwhoopt aus Illinois erinnerten, wärmte zumindest einigen Briefmarkensammlern das Herz.

Berichte aus dem Hinterland

Anschließend betrat dann jene Band die Bühne, deretwegen die Arena seit Wochen ausverkauft war: The National.

Das große Talent dieser live zurzeit achtköpfig anrückenden Formation besteht darin, über kleine Alltagsgeschichten große Gefühle zu transportieren. Fünf Alben, die letzten drei davon nichts weniger als kleine Wunder, fielen dabei bisher ab. Unaufdringlich, aber eindringlich berichtet die aus Ohio kommende und in New York lebende Band über Gefühlshaushalte und Schicksale aus dem US-amerikanischen Hinterland.

Formal betrachtet reicht ihnen dabei ein Song. Ein sich einschleichendes, sich langsam aufrichtendes Lied ist es, das, von allen Instrumenten befeuert, eine schattseitige, sich etwas zierende Schönheit gebiert, einen sanften Sog entwickelt. Dieses Lied transformierten sie live kunstvoll und facettenreich - ein Reichtum, den Bläser und ein Streicher so erhaben wie vielfältig wirken ließen, während Matt Berninger vorn am Mikro den Erzähler gab. Im Secondhand-Sakko - zu kurz, zu eng - wirkte er mit seinem gestenunsicheren Auftritt beständig ein wenig neben sich.

Ein Umstand, der sich änderte, wenn er sich mittels charakteristisch-nölenden Baritons in seine Songs einfühlte. Da schloss er die Lider, da wurde das Gefühl des Little Faith verständlich, da wurden seine Sorgen (Sorrow) zu jenen des Publikums, über das man sich nur ob der Gesetze einer Konzertsituation erhebt. Denn The National, das sind wir. Das sind keine Stars, sondern die unrasierten Slacker von nebenan, die mit ihrer Musik den schmalen Grat zwischen Tradition und Konservativismus ausloten. Mit all den Unsicherheiten des Lebens.

Wenn es sein muss, lassen sie dabei die Hosen runter (Afraid Of Everyone) oder beklagen ihre Heimat resignativ als Fake Empire. Ein Lied, das die Ohnmacht eines Teiles der Bevölkerung der USA während der Amtszeit von George W. Bush zu beschreiben suchte und in einer knappen Version vor dem Zugabenblock so etwas wie ein kleiner Höhepunkt war, zumal sich dieser eine Song hier in all seiner Brillanz zeigte.

Das zu dieser Zeit längst enthusiasmierte Publikum, das sich schon zuvor mitsingend und mit erhobenen Tafeln zum Dialog mit der Band traf, wurde in seiner Zuneigung rundum bestätigt. Die neue, breitere Livebesetzung von The National verlieh der Show den notwendigen Druck, der Rest der Zusammenkunft bestand aus Charme und Gegencharme zwischen Fans und Band. (Karl Fluch / DER STANDARD, Printausgabe, 20.8.2010)