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PKK-Führer Abdullah Öcalan (Archivbild) sitzt seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali in Haft.

Foto: AP

"Wir sollten eine demokratische Haltung gegenüber neuen demokratischen Entwicklungen einnehmen." Mit diesem kryptischen Satz mischt sich nun auch Abdullah Öcalan, der inhaftierte Chef der verboteten Kurdischen Arbeiterpartei PKK, in die Debatte um eine neue Verfassung in der Türkei ein.

Am 12. September sind alle Türken aufgerufen, in einem Referendum über eine runderneuerte Verfassung abzustimmen. Wer sich aber Auftritte von Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu anschaut, muss den Eindruck bekommen, es gehe um alles Mögliche, nur nicht um eine neue Verfassung.

Tägliche Attacken

Täglich gehen Ministerpräsident und Oppositionsführer mit dem populistischen Dreschflegel gegeneinander an. Während der eine dem anderen Korruption vorwirft und wissen will, wie Erdogan zu seinen Immobilien gekommen ist, unterstellt der andere, sein politischer Gegner habe eventuell kurdische oder gar armenische Vorfahren und sei deshalb politisch unzuverlässig.

In der täglichen Schlammschlacht, die alle Merkmale eines ordinären Wahlkampfs aufweist, ist kaum noch erkennbar, worum es eigentlich geht. Nach knapp 30 Jahren sollte die von den Militärdiktatoren 1982 durchgesetzte Verfassung endlich abgelöst und durch ein modernes Verfassungswerk ersetzt werden. Aus diesem Vorhaben wurde nach jahrelangen Diskussionen nun eine eher schmalbrüstige Verfassungsänderung.

Zwar sind die komplizierten juristischen Details den meisten Wählern unverständlich und die Politik auch nicht um Aufklärung bemüht. Dennoch sind Regierungsgegner davon überzeugt, dass die moderat-islamistische AKP mit der Reform ihre Herrschaft zementieren will. Umgekehrt glauben ihre Anhänger, mit der Verfassungsreform der Demokratie in der Türkei zum Durchbruch zu verhelfen.

Tatsächlich bleiben die realen Änderungen weit hinter diesen Erwartungen zurück. Neben einigen unstrittigen Neuerungen wie der Präzisierung der Rechte der Kinder geht es hauptsächlich um Veränderungen in der Justiz. Die Militärgerichtsbarkeit wird eingeschränkt, Militärs können in bestimmten Fällen auch vor Zivilgerichten angeklagt werden.

Auch die Wahl der Höchstrichter wird neu geregelt. Parlament und Regierung bekommen so größeren Einfluss auf die obersten Gerichte, was Kritikern zu der Befürchtung Anlass gibt, dass die regierende AKP sich zukünftig ihre Richter selbst aussuchen kann.

Andere heikle Punkte rührt die Reform nicht an. Politische Parteien werden auch künftig von der Verfassung kaum geschützt und können weiterhin leicht verboten werden. Die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament wird nicht gesenkt. Auch die Rechte religiöser und ethnischer Minoritäten werden nicht gestärkt.

Darum zeigten sich viele Kurden zunächst eher enttäuscht. Die Kurdenpartei BDP plädierte für einen Wahlboykott. Mit der Andeutung des Kurdenführers Öcalan, man solle sich "demokratisch" verhalten, könnten viele seiner Anhänger ihre Meinung ändern. Damit würde ausgerechnet der Staatsfeind Nr. 1 zu einem wichtigen Helfer für Erdogan. Denn nur mit den Stimmen der Kurden kann er die notwendige 51-Prozent-Zustimmung erreichen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul/DER STANDARD, Printausgabe, 20.8.2010)