ERICH LEHNER studierte Psychologie, Pädagogik und Theologie. Seit 1989 ist er im Bereich der Männer- und Geschlechterforschung tätig, unter anderem am Ludwig Boltzmann-Institut für Werteforschung (1997-2005). Seit 1991 Psychoanalytiker in freier Praxis und als Lehranalytiker und Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt und an der Universität Wien tätig.

Foto: Pilo Pichler

Durch die aktuelle Obsorge-Debatte geraten Männer und insbesondere Väter zunehmend als benachteiligte Gruppe in den Fokus der Öffentlichkeit. Der Männerforscher Erich Lehner verfolgt das Thema Mann seit 1989 und hat sich intensiv mit Vaterschaft beschäftigt. Beate Hausbichler erkundigte sich bei Erich Lehner genauer nach diesem Gebiet der Geschlechterforschung und sprach mit ihm über die aktuelle Obsorge-Debatte, notwendige Anreize für Männer, in Karenz und Teilzeit zu gehen und männerpolitische Versäumnisse.

dieStandard.at: Frauenforschung hat sich relativ zeitgleich mit dem Feminismus etabliert. Wie war das bei der Männerforschung?

Erich Lehner: Für mich ist Feminismus ein Dach des Diskurses. Das ist nicht die Definition, die alle haben. Viele sind der Meinung, Feminismus heißt, dass Frauen etwas für Frauen tun, was in meiner Diktion den Impetus einer Befreiungsbewegung hat, das wäre aber schon ein politischer Arm. Unter dem Diskursdach Feminismus kann es mehrere Formen von Feminismen geben, einen liberalen, sozialen usw. Die zweite Frauenbewegung wurzelt in feministischen Gruppen der amerikanischen Westküste Ende der 60er Jahre, in denen darüber diskutiert wurde, wie das Patriarchat - ein politischer, kein wissenschaftlicher Begriff – Frauen unterdrückt. Ein Teil dieser Gruppierungen war gemischt. Erst als diese Gruppen sich in Richtung einer Befreiungsbewegung ausrichteten, mit der die Frauen für sich etwas erreichen wollten, kam es zur Forderung der weiblichen Autonomie und damit verbunden zum Exodus der Männer.

dieStandard.at: Wie sind die Männer mit diesem Ausschluss umgegangen?

Lehner: Die einen reagierten ganz rational und konnten das nachvollziehen, bildeten selbst Gruppen und empfanden sich als Unterstützer dieser feministischen Frauengruppen. Die anderen waren – wie so oft – persönlich gekränkt. In Amerika kam es in den 60er, 70er und 80er Jahren zu einer Männergruppenbewegung, die – wie bei den Frauen auch – sehr therapeutisch orientiert war. Der Zweck dieser Gruppen war, sich selbst zu stärken, was für die Frauen sehr wichtig war. Vieles, was wir heute haben, entstand aus diesen Encountergruppen. Eine solche Bestärkung ist bei Männern allerdings problematisch, wenn es zu keiner Reflexion darüber kommt, dass Männer strukturell ohnehin auf der besseren Seite sind. Ein Teil der Männerbewegung wurde antifeministisch, was sich am extremsten in der Haltung ausdrückte: "Das Patriarchat unterdrückt Männer und Frauen in gleicher Weise". Ein anderer Teil kam an die amerikanischen Universtäten, setzte sich mit feministischen Gedanken auseinander und beschäftigte sich mit der Geschlechterfrage aus Männersicht. In Abgrenzung zur mytho-poetischen Männerbewegung, die in den 80ern auf der Basis von Robert Blys Buch "Eisenhans: Ein Buch über Männer" entstand, nannten diese Männer an den Universitäten ihre Forschungen bald "Pro-Feminist-Menstudies". Sie wollten sich als eine Richtung positionieren, die mit den Erkenntnissen des Feminismus arbeitet, um mit der Perspektive der Männer Geschlechtergerechtigkeit herzustellen.

dieStandard.at: Sie haben sich viel mit Vaterschaft beschäftigt. Was sagen Sie zur aktuellen Obsorge-Debatte?

Lehner: Das ist eine sehr verkürzte Debatte. Man sagt, man wolle Vaterschaft ermöglichen und schaut einzig allein auf die Zeit nach einer Scheidung. Man sollte die großen Linien stärker in den Blick nehmen. In Schweden ist die Obsorge überhaupt kein Thema. Was aber zur Debatte steht – und das wäre mein Anliegen für Österreich – ist, wie Vaterschaft gestaltet werden kann. Natürlich ist die Obsorge Teil einer aktiven Vaterschaft. Allerdings wird diese Vaterschaft vor der Geburt, während der Geburt und nach der Geburt geformt. Ihr Kennzeichen ist die väterliche Präsenz für Mutter und Kind. Wenn man bedenkt, dass in Österreich der Karenzväteranteil magere 4 Prozent beträgt und nur eine verschwindende Minderheit von Männern für die Betreuung ihrer Kinder ihren Beruf auf Teilzeitarbeit reduziert, wird erkennbar, dass die väterliche Präsenz in Österreichs Haushalten sehr gering ist. In Schweden war die Obsorge kein Problem, dort hat man auch nicht mit der Obsorge begonnen aktive Vaterschaft zu installieren, sondern es wurde schon 1973 eine Karenzregelung für Frauen und Männer installiert. Als sich auf Männerseite nichts tat, wurde 1984 für 10 Jahre eine Kommission zur Erforschung der männlichen Geschlechtsrolle eingeführt, und als sich dann noch immer wenig verändert hat wurde eine weitere 7-jährige Kommission für die Vaterrolle eingerichtet. Eine gewaltige von der Politik getragene PR-Kampagne kommunizierte an die Gesellschaft die Botschaft: Wir wollen andere Männerrollen. Jetzt wo viel mehr schwedische Männer in der Betreuung ihrer Kinder engagiert sind, ist die gemeinsame Obsorge ein selbstverständlicher Teil einer aktiven Vaterschaft. Bei uns wäre dies nicht der Fall.

dieStandard.at: Sie sehen also in einer automatischen gemeinsamen Obsorge keine Lösung?

Lehner: Ich glaube, dass das derzeitige Gesetz verbessert werden soll. Beispielsweise sollte der Umstand, wenn Väter in Karenz oder Teilzeit zugunsten der Kinderbetreuung waren, berücksichtigt werden. Ich bin jedoch gegen die automatische gemeinsame Obsorge, sie würde nicht die Realität der österreichischen Familie widerspiegeln, in der die meisten Männer nach wie vor für die materielle Versorgung und die Frauen für die Familie zuständig sind. Aber die Realität sollte so verändert werden, dass die gemeinsame Obsorge selbstverständlich wird.

dieStandard.at: Was schlagen Sie für mehr Gerechtigkeit in diesen Bereichen vor?

Lehner: Ich halte die Verteilung von Berufsarbeit und Familienarbeit als einen der Schlüsselpunkte für Geschlechtergerechtigkeit. Das heißt zunächst Frauen im Beruf zu fördern. Allerdings verweise ich hier gerne auf den Ausspruch der schwedischen Feministin Eva Moberg, dass Frauen nicht Gleichstellung im Berufsleben erlangen, solange sie alleinverantwortlich für die Familie sind. Moberg forderte zu Recht eine größere Präsenz von Männern in der Familie. Ich bin deshalb sehr dafür, dass die Karenzzeit aufgeteilt wird. Eine Hälfte sollte ausschließlich dem Vater, die andere Hälfte ausschließlich der Mutter zur Verfügung stehen. Es sollte gesellschaftlich klar sein, dass beide Elternteile sowohl für die materielle Versorgung als auch für die psychosoziale Betreuung der Kinder zuständig sind. Aufgabe der Politik wäre es hier, die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen.

dieStandard.at: Kürzlich wurde berichtet, dass Männer von Mobbing betroffen sein können, wenn sie in Karenz gehen (derStandard.at berichtete: Väterkarenz: Kinderliebe kann Karriere kosten). Ist die Karenz-Scheu der Männer also berechtigt?

Lehner: Natürlich gibt es das, aber das sind Extreme. Grundsätzlich sagen alle Umfragen, dass es eine hohe Bereitschaft unter Männern gibt, mehr bei ihren Kindern zu sein. Allerdings gilt auch, wenn es Widerstand zur Väterkarenz gibt, dann eher von Seiten männlicher Kollegen, jedoch ist dieser Widerstand nicht immer extrem. Ein Großteil der Karenzväter berichtet dennoch, dass sie auch unter männlichen Kollegen Anerkennung für ihre Entscheidung bekommen haben. Es zeigt aber, dass die Bereitschaft zu größerem familiären Engagement der Männer von der Politik aufgenommen und unterstützt werden muss. Insofern freue ich mich, dass wir mit Heinisch-Hosek eine Frauenministerin haben, die verstärkt anspricht: Zur Gleichstellung der Frauen gehört eine Veränderung der Männerrolle. Ich würde mir überhaupt auf lange Sicht wünschen, dass das Frauenministerium in ein Gleichstellungsministerium mit Frauen- und Männeragenden umgewandelt wird. In Österreich fehlt eine entwickelte Männerpolitik. Sie sollte von Männern getragen sein, sollte aber einer Frau, der Gleichstellungsministerin, unterstellt sein. Historisch gesehen ist überall da, wo sich Männer organisieren, die strukturelle Macht zu groß und die Gefahr eines Backlash gegeben.

dieStandard.at: Wie sollen Männer von Teilzeitarbeit und Karenz überzeugt werden?

Lehner: Es ist ganz besonders wichtig, dass jeweils die oberste Spitze einer Institution klar signalisiert: Ich will, dass Väter aktiv sind und in Karenz oder in Teilzeit gehen. Dass sie ihre führenden MitarbeiterInnen auch auffordern diesen Wunsch zu unterstützen. Dieser Prozess auf betrieblicher Ebene müsste politisch strukturell durch Maßnahmen aber auch durch eine politisch kulturelle Diskussion über das Männerbild in der Gesellschaft unterstützt werden. Wenn durch derartige politische Gestaltungs- und Diskussionsprozesse Männlichkeitsbilder und männliche Identitäten fürsorglicher werden und eine große Zahl von Männern in Karenz und Teilzeit zugunsten von Kinderbetreuung sind, ist Obsorge eine Selbstverständlichkeit.

dieStandard.at: Warum ist Österreich im Vergleich – Sie sprechen immer wieder Schweden an – so konservativ?

Lehner: Nationalsozialismus und Katholizismus hört man oft als Antwort. Das sind sicher Faktoren, aber nicht die einzigen. Schweden hatte etwa als erstes Land so etwas wie ein statistisches Zentralamt, 1749, und hatte damals aufgrund statistischer Analyse erkannt, dass es eine große Kindersterblichkeit gibt und dann erfolgreich Maßnahmen dagegen gesetzt. Schweden hat also eine historische Erfahrung, dass man gesellschaftliche Probleme analysieren und gestalten kann. Was sich am langen Atem, mit dem Schweden beispielsweise versucht hat die Männerrolle zu verändern, gezeigt hat.

dieStandard.at: Wertkonservative PolitikerInnen verteidigen den Vorschlag der automatischen gemeinsamen Obsorge während sie gleichzeitig neue Formen des Zusammenlebens konsequent ablehnen. Ist die gesellschaftspolitische Verfasstheit in Österreich für eine automatische gemeinsame Obsorge noch nicht reif?

Lehner: Das würde ich so sehen. Die Väterfrage wurde gesellschaftspolitisch nicht aufgegriffen. In unseren Umfragen geben zwar 80 Prozent der Männer an, dass sie bereit wären, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Das ist allerdings nur eine Bereitschaft. Männer sind sehr gruppenorientiert. Wie stehe ich innerhalb dieser Männerkultur da, wie ist mein Status, das spielt eine große Rolle. Daher ist es für Männer ganz wichtig, dass von oberster Spitze die richtigen Signale kommen. Und: Wir müssen auch sehen, dass wir in der Gruppe der Männer keinen Leidensdruck haben, uns geht es ja gut.

dieStandard.at: Dennoch gibt es sie: Maskulinisten, Väterrechtler oder die Männerpartei – wie unterscheiden sich diese Gruppierungen?

Lehner: Ich habe mich vor allem mit der Väterrechtsbewegung beschäftigt. Bei ihnen handelt es sich vorwiegend um Männer aus dem Mittelstand, die sehr gut ausgebildet und beruflich besser gestellt sind als andere Männer, auch von daher waren sie immer in der Minderheit. Außer in Schweden gibt es überall diese Männergruppen, die nach Scheidungen behaupten, im Verfahren benachteiligt worden zu sein. Da sie überproportional gut bestallt sind, können sie auch überproportional PR machen, auch bei uns. Die Väterrechtsbewegung gehört zum konservativen Spektrum. Unter Schwarz-Blau und vor allem durch die Männerpolitische Grundsatzabteilung, die von dem einzigen Frauenminister Herbert Haupt installiert wurde, bekamen sie politischen Einfluss. Die erste Studie dieser Abteilung hat sich auch mit der Situation dieser Männer auseinandergesetzt und wollte zeigen, dass sie benachteiligt sind. Tatsächlich ist die Studie aber zu dem Schluss gekommen, dass es zwar beklagenswerte Einzelfällt gibt, aber dass man nicht generell sagen kann, dass geschiedene Männer eine sozial benachteiligte Gruppe ist. Was die Studie auch noch gezeigt hat: Wenn geschiedene Männer fast kein Geld haben, dann hat die dazugehörige Frau meist noch weniger Geld.

Die Männerrechtspartei würde ich eindeutig als rechts einstufen. Ich hab mich mit ihrer Homepage beschäftigt, das ist alles sehr reaktionär und ich halte die Inhalte der Männerpartei auch für gesellschaftspoltisch gefährlich. (Beate Hausbichler, dieStandard.at, 22.8.2010)