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Schlachtfeld Erziehung: Die Eltern sind überfordert, der Bub zuckt aus.

Foto: Standard/Corbis

"Ich hab den Religionslehrer in die Eier getreten, dass er zusammengefallen ist wie ein Klappstuhl": Für einen flüchtigen Moment kommt Alex ein Lächeln aus, als könnte er die Geschichte selbst nicht glauben. Schnell fixiert er wieder einen Punkt im Nirgendwo, legt die Stirn in Falten; er ist nicht stolz auf seine Heldentaten. Selten nur riskiert der 15-Jährige einen Blickkontakt, höchstens dann, wenn er seine Mutter schnippisch schulmeistert: "Also wirklich, nicht einmal eine Stunde hältst du's ohne Zigarette aus!"

Ewiger Außenseiter

Barbara K. ist bei ihrem Sohn nur zu Gast. Seit Juni lebt der stämmige Teenager - knöchellange Camouflagehose, grobgliedrige Silberkette - mit sieben anderen Burschen und fünf Sozialarbeitern in einer Wohngemeinschaft der SOS-Kinderdörfer, die jüngste Station einer kinderlebenslangen Odyssee. Lehrer haben Alexander weitergereicht, er landete in der Sonderschule und der Psychiatrie, wurde analysiert, therapiert, sediert. Das Jugendamt schickte Sozialarbeiter und Psychologen, ein Tagesvater schleppte ihn auf einen Bauernhof zum Ziegenfüttern. Helfer kamen und gingen - doch geblieben ist Alex das, was er seine "Auszucker" nennt.

"Kratzen, Beißen, Treten" zählen zu Alex' ersten Kindheitserinnerungen, es war die Zeit mit seinen drei älteren Schwestern, als sich das Unheil anbahnte. Die Mutter hielt die Wickel für normale Reibereien, doch in Wahrheit hat sie damals, vor zehn Jahren, "wenig mitgekriegt". Vom Vater trennte sich Frau K., als der Bub drei war, sie arbeitete als Verkäuferin, später als Kellnerin, "da gab's kein Wochenende und nix". Die Kinder kamen miteinander nicht zurande, sie hatten genug mit sich selbst zu tun. Die älteste Tochter litt unter epileptischen Anfällen, die zweite, auch noch keine 14, schwang sich zur "Ersatzmama" auf - unter immer wütenderem Protest des Jüngsten.

Als "totaler Außenseiter" fühlte sich Alex oft, erst recht in der Schule. "Doch bevormunden lass ich mich nicht", sagt er, das gilt für damals wie heute und vor allem für die Lebensgefährten seiner Mutter. "Ein faules Stück Scheiße" nennt er den aktuellen Partner, "der nur auf seinem fetten Oasch herumsitzt, während sich meine Mutter den Buckel krummarbeitet." "Wie oft soll ich dir's noch erklären, er leistet genauso seinen Beitrag," antwortet diese. "Das sagst du. Aber was denkst?", erwidert Alex.

Von einem Veilchen, das ihm der Stiefvater verpasst habe, erzählt Alex, doch oft schlägt er auch selbst los, auf Mitschüler, die Schwester und sogar die Mutter. "Nichtigkeiten" nennt er die Anlässe, es reicht ein falsches Wort, ein verweigerter Wunsch. "Wie ein Irrer" tobt der Bursche dann herum, einmal hält er sich ein Messer an den Hals. "Durchgezogen hätte ich aber nicht", sagt er.

Am Ende ist es Alex, der geht - erst ins Exil zu einer Tante, schließlich auf Vermittlung des Jugendamts in die Kinderdorf-WG in einem alten Weinbauernhaus an der Wiener Peripherie. Der erste Probemonat im Frühjahr ging noch schief, der Neuankömmling ließ, obwohl jüngster Bewohner, den Klugscheißer raushängen, verspottete die anderen als "Deppen-GmbH". Ein Betreuer verhinderte gerade noch eine Rauferei.

Nun aber scheint auch Alex' Kopf angekommen zu sein. Ein bisschen nachgeholfen haben Medikamente, seine "Dämpfer", auf die beim ersten Anlauf noch verzichtet wurde. Von "juvenile Depression" bis "eingeschränkte Impulskontrolle" reichen die im Laufe der Zeit gesammelten Diagnosen, dennoch hält Nicole Cerny, Leiterin der Wohngemeinschaft, ihren Schützling für keinen pathologischen Fall. Der Bursche habe einfach einige überlebenswichtige Mechanismen nicht gelernt, meint die Sozialarbeiterin: "Er hat nicht gekriegt, was er gebraucht hat: Aufmerksamkeit, stabiles Umfeld, Rückhalt."

Auf Tauchstation

Alex' Mutter will da nicht groß widersprechen, ihrem Sohn habe eben auch "eine Vaterfigur gefehlt", glaubt sie. Doch der Exmann, er fing zu trinken an, sei gern auf Tauchstation gegangen - als ihn einmal eine Tochter zu Silvester anrief, legte er wortlos auf. "Wenn meine Eltern weniger Probleme gehabt hätten", meint Alex, "wäre alles anders gewesen".

Alex ist kein Dummer, den Hauptschulabschluss hat er bravourös gemeistert. Seine Betreuer haben ihm einen Schnupperjob in einem Spendenlager vermittelt, ein geregelter Alltag soll ihn aus der latenten Lethargie reißen. Pünktliches Aufstehen und regelmäßige Putzdienste sind Pflicht - in den Tag hineinzuleben wäre Gift, meinen die Pädagogen und Therapeuten.

Läuft alles rund, könnten die Psychopharmaka reduziert werden, von Auszuckern blieb der Teenager in den ersten Wochen schon einmal verschont. "Hier muss er auch nicht schreien, um gehört zu werden", sagt Cerny.

"Weniger Stress" fühlt Alex, "das ist, glaub ich, aus dem Kopf draußen." Und wenn es ihn doch überkommt, dann lasse er seine Wut zumindest nicht mehr an anderen aus: "Ich drehe laut Musik auf und boxe mit der Faust gegen die Wand. In dem Moment spüre ich gar nichts. (Gerald John, DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.8.2010)