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Fast 20 Millionen Menschen stehen vor dem Nichts: Ban Ki-moon in einem Lager in der Provinz Punjab.

Foto: REUTERS/Tanveer

Als ich vergangenen Sonntag unter dem bleiernen Himmel von Pakistan stand, sah ich ein Meer des Elends. Fluten hatten tausende von Städten und Dörfern weggeschwemmt. Straßen, Brücken und Häuser wurden in jeder Provinz des Landes zerstört.

Vom Himmel aus sah ich tausende Quadratkilometer bestes Ackerland - Brot und Butter der pakistanischen Wirtschaft -, das von den steigenden Fluten verschluckt wurde. Am Boden traf ich Menschen in Panik, die mit der täglichen Angst leben, dass sie ihre Kinder nicht mehr ernähren können oder sie nicht vor der nächsten Welle der Krise schützen können: die Ausbreitung von Durchfall, Hepatitis, Malaria und, am fatalsten, Cholera.

Das schiere Ausmaß der Katastrophe spottet jedem Verständnis. Landesweit sind geschätzte 15 bis 20 Millionen Menschen davon betroffen. Das sind mehr als alle Betroffenen vom Tsunami im Indischen Ozean und vom Erdbeben in Kaschmir im Jahr 2005, vom Zyklon Nargis 2007 sowie vom diesjährigen Erdbeben in Haiti zusammengerechnet. Mindestens 160.000 Quadratkilometer stehen unter Wasser - eine Fläche zweimal so groß wie Österreich.

Warum war die Welt beim Begreifen des Ausmaßes dieses Elends so langsam? Vielleicht weil es kein fernsehgerechtes Desaster ist, mit plötzlichen Auswirkungen und dramatischen Rettungsaktionen. Ein Erdbeben fordert auf der Stelle zehntausende Opfer. Bei einem Tsunami verschwinden augenblicklich ganze Städte und ihre Bevölkerungen. Im Gegensatz dazu ist das eine Zeitlupenkatastrophe - eine, die nach gewisser Zeit entsteht. Und eine, die bei weitem noch nicht vorbei ist.

Die Monsunregen könnten noch Wochen andauern. Selbst wenn das Wasser aus bestimmten Gebieten zurückgehen würde, werden neue Fluten andere Menschen in Mitleidenschaft ziehen, vor allem im Süden. Und wir wissen natürlich, dass dies in einer der am schwersten belasteten Regionen der Welt passiert, wo Stabilität und Wohlstand im Interesse der Welt stehen. Aus all diesen Gründen sind die Fluten im August mehr als nur eine Katastrophe für Pakistan allein. In der Tat repräsentieren sie eine der größten Bewährungsproben an globaler Solidarität in unserer Zeit.

Deshalb haben die Vereinten Nationen einen Notstandsaufruf für 460 Millionen Dollar gestartet. Das ist weniger als ein Dollar pro Person pro Tag, um sechs Millionen Menschen für die nächsten drei Monate am Leben zu erhalten, einschließlich 3,5 Millionen Kinder. Internationale Verpflichtungen wachsen täglich. Weniger als eine Woche nach dem Appell haben wir den halben Weg erreicht. Und trotzdem ist das Ausmaß der Antworten auf das Ausmaß dieser Katastrophe ungenügend.

Am Donnerstag tagte die Uno-Generalversammlung, um unsere Bemühungen zu intensivieren. Wenn wir jetzt handeln, kann eine zweite Welle an Todesopfern, die durch vom Wasser übertragene Krankheiten verursacht wird, verhindert werden. Es ist nicht leicht, Hilfsoperationen in solch schwierige, manchmal gefährliche Gegenden zu bringen. Aber ich habe gesehen, dass es auf der ganzen Welt passiert, von den entlegensten Teilen Afrikas bis zu Haitis zertrümmerten Städten. Und ich sah es diese Woche in Pakistan.

Eine Schar an UN-Einheiten, internationalen Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz oder der Rote Halbmond und andere nichtstaatliche Organisationen haben die pakistanische Regierung bei ihrer Nothilfe unterstützt. Mittels Lastwägen, Helikoptern und sogar Maultieren haben wir Nahrungsmittelrationen für fast eine Million Menschen gebracht, die von der Versorgung abgeschnitten waren. Ebenso viele haben jetzt Notunterkünfte, und noch mehr bekommen täglich sauberes Trinkwasser. Mittel zur Behandlung von Cholera, Schlangengegengifte, Operationsutensilien und Elektrolyte zur oralen Rehydrierung retten eine steigende Zahl an Leben.

Das ist ein Anfang, aber es bedarf noch eines massiven Schubes. Sechs Millionen Menschen leiden unter Nahrungsmittelknappheit. 14 Millionen brauchen dringende medizinische Versorgung, mit besonderem Augenmerk auf Kinder und Schwangere. Und wenn die Fluten zurückgehen, müssen wir schnell den Menschen beim Wiederaufbau ihres Landes helfen und retten, was von ihrem Leben noch übrig ist.

Die Weltbank hat den Ernteschaden auf mindestens eine Milliarde Dollar geschätzt. Die Bauern brauchen Saatgut, Düngemittel und Werkzeug zum Anbau, damit nicht die nächstjährige Ernte auch noch verloren ist. Wir sehen bereits jetzt Preisanstiege für Nahrungsmittel in Pakistans größten Städten. Langfristig müssen die enormen Schäden in der Infrastruktur repariert werden, angefangen von Schulen und Spitälern bis zu Bewässerungskanälen sowie Nachrichten- und Transportverbindungen. Die Vereinten Nationen werden daran teilhaben.

Aus den Medien hören wir von einer gewissen "Müdigkeit" - Andeutungen, dass Regierungen bei der Bewältigung einer weiteren Katastrophe zurückhaltend sind, dass sie bei den Beitragsleistungen für diesen Teil der Welt zögern. Tatsächlich aber unterstützen Geldgeber Pakistan, und das ist ermutigend. Wenn jemand müde sein sollte, dann die Menschen, die ich in Pakistan traf - Frauen, Kinder und Kleinbauern, müde der Strapazen, Konflikte und wirtschaftlich harten Zeiten. Sie haben nun alles verloren. Aber statt Müdigkeit sah ich Entschlossenheit, Ausdauer und Hoffnung - und die Erwartung, dass sie in ihrer größten Not nicht allein sind.

Wir können nicht einfach warten und diese Naturkatastrophe zu einer vom Menschen verursachten werden lassen. Lassen Sie uns den Menschen in Pakistan auf dem langen und schwierigen Weg, den sie vor sich haben, beistehen. (Ban Ki-moon, DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.8.2010)