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Der Oppositionelle Boris Nemzow wurde verhaftet.
Die Unzufriedenheit mit der russischen Führung wächst. In Moskau fand die größte Demonstration seit vielen Monaten Jahren statt. Bürgerrechtler befürchten weiteren Druck durch die geplante Polizeireform.
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"Wenn das Erdöl zu Ende geht, wird unser Präsident sterben, und die Welt wird ein wenig freier sein." Mit dieser Liedzeile hatte sich der russische Rocksänger Jurij Schewtschuk beim ehemaligen Präsidenten Wladimir Putin nicht sehr beliebt gemacht. Umso größer war hingegen der Jubel der Demonstranten, als Schewtschuk auf dem Puschkin-Platz das Lied ohne Mikrofon und Lautsprecher anstimmte.
Rund 3000 Menschen hatten sich Sonntagabend im Zentrum Moskaus versammelt, um gegen die Abholzung des Chimki-Waldes, aber auch gegen die Politik Putins zu protestieren. Im Internet berichten Blogger sogar von 5000 Teilnehmern. Sie skandierten "Zeit für einen Machtwechsel".
Die Organisatoren der Demo planten eigentlich ein Konzert mit einem halben Dutzend Künstlern. Die Behörden genehmigten das Konzert jedoch nicht. Der Transport der Lautsprecheranlagen wurde von Unbekannten auf Motorrädern verhindert, die dem Lastwagen bei einer roten Ampel die Reifen aufstachen, berichtete Gazeta.ru.
Bei den Protesten wurden die bekannten Oppositionellen Boris Nemzow, Lew Ponomarjow sowie weitere 20 Demonstranten verhaftet. Ihnen wird Ungehorsam und die Organisation unerlaubter Kundgebungen vorgeworfen.
Die schwersten Brände in der russischen Geschichte und steigende Preise erhöhen die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der russischen Führung. In der wirtschaftlich benachteiligten Enklave Kaliningrad forderten am Samstag 3000 Demonstranten den Rücktritt Putins und die Wiedereinführung der Direktwahl der Regionalgouverneure.
Um die Proteste in den Griff zu bekommen, ziehen die Behörden die Schrauben an. So wurde erst kürzlich ein Demonstrant zu zweieinhalb Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt. Bürgerrechtler befürchten auch, dass die bevorstehende Polizeireform dazu benutzt wird, die Vollmachten der Exekutive weiter auszubauen.
Der Politologe und Putin-Kritiker Stanislaw Belkowski sieht in dem Gesetzesvorhaben, das von Präsident Dmitri Medwedew initiiert wurde, eine "Verschärfung des Polizeiregimes" . Die Bürgerrechtler kritisierten, dass die Polizisten das Recht bekommen sollen, zu jeder Tageszeit ungehindert jede beliebige Wohnung zu betreten. De facto ist dies bereits jetzt so, sagen Experten. Nun soll dieses Recht aber auch gesetzlich festgeschrieben werden.
Kritik hagelt es auch an der geplanten Umbenennung der Miliz in Polizei. Der Austausch des Schriftzuges auf Autos, Uniformen und Gebäude werde laut Kommersant mehrere Milliarden Rubel kosten. Verlierer der Reform sind auch die Regionen, da die neue Polizei Teil eines zentralisierteren Systems werden soll.
Das Gesetz, das Anfang 2011 in Kraft treten soll, wird derzeit öffentlich diskutiert. Erstmals wurde ein Gesetzesentwurf im Internet veröffentlicht. Mehr als 16.000 Kommentare wurden bereits gepostet. Anregungen für die Polizeireform holten sich die russischen Beamten auch bei einem Besuch in Österreich Ende Mai, berichtete Vize-Innenminister Sergej Bulawin dem Magazin Russkij Newsweek. (Verena Diethelm aus Moskau/DER STANDARD, Printausgabe, 24.8.2010)