Das Bundesheer auf ein Freiligenheer umzurüsten wäre sinnnvoll und machbar. Die Debatte darüber wird aber durch ideologische Scheuklappen und parteitaktisches Kalkül blockiert. - Zum Schaden der Gesellschaft.

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Die europäische Sicherheitspolitik hat sich seit Ende des Kalten Krieges paradigmatisch verändert: Die Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte war unter unter anderem durch die verstärkte Internationalisierung von Sicherheit, nachhaltige Neuorientierung strategischer Konzepte sowie durch Anpassungen in Struktur, Stärke und Aufgabenstellung der Streitkräfte, gekennzeichnet, die sich in allen Staaten der Europäischen Union sichtbar niedergeschlagen haben.

Zugleich wird am Beispiel vieler EU-Mitgliedsländer mittlerweile deutlich sichtbar, dass dieses nachhaltig umgestaltete sicherheitspolitische Umfeld mit seinem (post-)modernen Kriegs- und Konfliktbild kaum mehr mit dem Konzept der allgemeinen Wehrpflicht in Einklang zu bringen ist.

Wenn auch bisher noch kein neutraler oder ehemals blockfreier Staat von der Wehrpflicht abgerückt ist, so sollten doch folgende Fakten zu denken geben: Belgien beispielsweise stellte bereits 1994 auf ein Berufsheer um, die Niederlande verzichten seit 1996 auf die Einberufung von Wehrpflichtigen, Spanien schaffte die Wehrpflicht 2001 ab, Frankreich ließ sie im Jahr 2002 auslaufen, Spanien und Portugal folgten 2003, Italien 2005. Und nun ist sogar in Deutschland, in dem die Wehrpflicht bisher stets als unantastbares Tabu galt, eine ernsthafte Debatte um die Aussetzung der Wehrpflicht und die Einführung eines Freiwilligenheeres ausgebrochen.

Schiefe Argumente

Und hierzulande? - Als mittlerweile großteils im Ausland lebender Beobachter des politischen und durchaus auch innermilitärischen Diskurses in Österreich zur Frage der allfälligen Abschaffung oder Aussetzung der Wehrpflicht habe ich den Eindruck, dass eine sachliche und umfassende Auseinandersetzung mit dem Thema "Wehrsystematik" häufig durch vorschnelle Verkürzungen und "dogmatische Abbrüche" - beispielsweise durch Hinweise auf die angebliche Unfinanzierbarkeit eines Freiwilligenheeres oder dessen demographische Undurchführbarkeit - behindert wenn nicht gar verhindert wird. Sogar die Aufrechterhaltung des als (Wehr-)Ersatzdienst definierten Zivildienstes wird als unabdingbares Argument für die Beibehaltung des status quo ins Treffen geführt.

Aber gerade die Diskussion über das Wehrsystem, mit seinen mannigfachen Auswirkungen auf das Sozialgefüge einer Gesellschaft, sollte nicht auf der Basis von parteitaktischen und ideologischen Überlegungen oder vorgefassten und altgewohnten Denkmustern geführt werden.

Die Frage nach einer zeitgemäßen Heeresstruktur kann nur im Gesamtkontext von sachlichen Aspekten, wie etwa dem der sicherheits- und staatspolitischen Angemessenheit, der ökonomischen und sozialen Machbarkeit, der demokratiepolitischen Verträglichkeit, aber auch der staatsbürgerlichen Zumutbarkeit, hinreichend beantwortet werden.

Als wesentlichste sachliche Diskursvoraussetzung ist festzuhalten, dass weder die allgemeine Wehrpflicht noch ein Berufs-/Freiwilligenheer per se die beste Wehrform verkörpert.

Die optimale Wehrform ist jene, die den gesamtpolitischen Herausforderungen unter den jeweiligen Gegebenheiten optimal entspricht und dabei die Erreichung der sicherheitspolitischen Zielsetzungen des Staates optimal gewährleistet. Präokkupationen, wie sie in Heer und Gesellschaft stark verbreitet sind - wie beispielsweise die Mär von der Wehrpflicht als "legitimem Kind der Demokratie" -, wirken sich nachteilig auf eine offene Diskussion aus und verzögern bzw. verhindern adäquate Lösungen. Versuche, ein demokratiepolitisches oder gar "ethisches" Apriori für ein bestimmtes Wehrsystem einzuführen, halten einer objektiven Reflexion nicht stand.

Es muss auch festgehalten werden, dass sich der Begriff Freiwilligenheer ausschließlich auf den Rekrutierungsmodus (Aufbringung und Ergänzung) der Streitkräfte bezieht und dass somit ein solches Heer kein reines Berufsheer wäre, sondern neben einer Berufskomponente auch über eine (Freiwilligen-) Milizkomponente verfügen würde.

Jene europäische Staaten, die bereits auf ein Freiwilligenheer umgerüstet haben, geben als Begründungen für die Umstellung folgende Leitgedanken an:

  • Signifikante Änderung der strategischen Bedingungen;
  • (infolgedessen) massive Reduktion der Mannschaftsstärken in den Streitkräften;
  • Verringerung der Bedeutsamkeit klassischer Landesverteidigungsaufgaben und Verlagerung auf präventive Konfliktlösung außerhalb des eigenen Staats- bzw. Bündnisgebietes;
  • steigende Bedeutung internationaler Krisenbewältigungs- und Interventionsfähigkeit, wozu ein beträchtlicher Teil der stehenden Heeresteile befähigt sein soll;
  • Problem der Einsatzfähigkeit von Wehrpflichtigen bei exterritorialen Einsätzen;
  • abnehmende Akzeptanz der allgemeinen Wehrpflicht in der Bevölkerung;
  • (Wieder-)Herstellung der "Wehrgerechtigkeit" angesichts des "boomenden" Zivildienstes und steigender Zahlen bei Zivil- und Ersatzdienstleistenden bzw. der damit verbundene Unmöglichkeit, alle ersatzdienstleistenden Wehrpflichtigen zum Zivildienst heranziehen zu können.

Notwendige Abwägung

Diese Parameter treffen zwar auf die einzelnen Staaten mit unterschiedlicher Gewichtung zu, sind aber von genereller Relevanz und können bzw. sollten in Analysen sachlich reflektiert werden. Jedenfalls ist die Realität der Einführung von Freiwilligenheeren in Staaten der Europäischen Union, die von Bevölkerungszahl und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit her gesehen durchaus mit Österreich vergleichbar sind (Belgien, Portugal), Indiz dafür, dass eine Umstellung in der Wehrsystematik machbar ist.

Und noch eine grundsätzliche Anmerkung: Jeder an der Diskussion Beteiligte oder Interessierte sollte sich dessen bewusst sein, dass die Wehrpflicht per se einen so eminenten Einschnitt in die Lebensentfaltung eines jungen Menschen, aber auch in das Gesamtgefüge der Gesellschaft darstellt, dass sie nur dann eingefordert werden sollte, wenn die Bewältigung der sicherheitspolitischen Aufgabenstellungen eines Staates - im Rahmen der gesamtpolitischen Herausforderungen - ausschließlich mit Streitkräften möglich ist, die auf Basis der Wehrpflicht rekrutiert werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.8.2010)