Rabbi Arik Ascherman.

Foto: rabbis for human rights

RHR leistet passiven Widerstand bei Übergriffen jüdischer Siedler auf Palästinenser bei der Olivenernte.

Foto: Rabbis for Human Rights

"Ich sehe nicht ein, wieso man vom rechten Weg abkommen sollte, wenn man sich für das moralische Wohlbefinden der Gesellschaft einsetzt, auch wenn es die sogenannten Bösen sind", sagt Arik Ascherman. Der aus Pennsylvania stammende Rabbi ist Vorsitzender der in Jerusalem ansässigen Organisation Rabbis for Human Rights. Die RHR – Selbstdefinition: "rabbinische Stimme des Gewissens in Israel" – versammelt orthodoxe, Reform- und konservative Juden unter einem Dach, die ein Ziel verfolgen: passiver Widerstand gegen den Siedlungsbau und die Übergriffe auf Palästinenser. 2005 wurde Ascherman angeklagt, 2008 sogar festgenommen, weil er laut Polizeiangaben Palästinenser gegen die Polizei angestiftet haben soll. Warum er sich gegen den Siedlungsbau ausspricht, seinen Glauben als "Brücke zur Welt" sieht und was Judentum und Humanismus gemeinsam haben, erzählt er im derStandard.at-Interview.

derStandard.at: Israels Premier Benjamin Netanyahu und der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas werden am 2. September in Washington DC zu direkten Friedensverhandlungen erwartet. Glauben Sie noch an einen erfolgreichen Ausgang der Gespräche?

Arik Ascherman: Natürlich glaube ich noch daran. Ich bin aber gleichzeitig auch etwas skeptisch darüber, wie ernst Israel die Verhandlungen angehen wird.

derStandard.at: Sollte der am 26. September auslaufende Teilstopp des israelischen Siedlungsbaus nicht verlängert werden, bedeutet das laut dem palästinensischen Chefunterhändler Saeb Erekat das Ende der Gespräche. Hängt Ihre Skepsis mit der Siedlungspolitik zusammen?

Arik Ascherman: Ja, aber das Problem ist noch etwas weitgreifender. Auch während der Nahost-Friedenskonferenz in Madrid (1991, am Verhandlungstisch saßen Israel, Jordanien, Syrien, der Libanon und Vertreter der Palästinenser, Anm.) wurde viel geredet, gleichzeitig wurden aber weiter in den besetzten Gebieten Siedlungen gebaut – das macht alles irrevelant.

Ich denke, dass ein Teil der Regierung das auch jetzt so handhaben möchte. Der Siedlungsbau ist nie gänzlich gestoppt worden. Wenn es da keine Veränderung gibt, werden die Palästinenser die Verhandlungen abbrechen. Da wird es noch eine Menge Diskussionen geben. Wir müssen also erst davon überzeugt werden, dass die Regierung es ernst meint und tatsächlich zu einem Ergebnis kommen möchte und sich nicht aus dem Problem rauswinden möchte.

derStandard.at: Israel will das zehnmonatige Moratorium dezidiert nicht verlängern. Ist der Siedlungsbau das größte Hindernis für Frieden?

Arik Ascherman: Rabbis for Human Rights hat keine offizielle politische Meinung dazu. Ob Grenzen neu überdacht werden müssen, ob die Siedlungen bleiben, ob neue dazukommen, welche Staatsbürgerschaft damit zusammenhängt: Darüber muss die Politik entscheiden. Laut der IV. Genfer Konvention ist jede Siedlungsaktivität einer Besatzungsmacht auf besetztem Gebiet illegal. Wir versuchen, neue Landübernahmen zu verhindern.

Der Weiterbau von Siedlungen erzeugt große Wut und Frustration unter den Palästinensern. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat einen sehr geringen Rückhalt auf den Straßen in den Gebieten. Sie müssen auf alle Fälle zeigen, dass sie etwas zu sagen haben, wenn sie irgendwelche Chancen haben wollen im Friedensprozess und um Unterstützung der Palästinenser zu bekommen.

derStandard.at: Siedlungsaktivisten wie Arie King sagen, dass Juden, die sich gegen den Siedlungsbau aussprechen, vom rechten Weg abgekommen sind. Was halten Sie dem entgegen?

Arik Ascherman: Diese Argumentation kann ich nicht nachvollziehen. Ich sehe nicht ein, wieso man vom rechten Weg abkommen sollte, wenn man sich für das moralische Wohlbefinden der Gesellschaft einsetzt und die Menschen auf allen Seiten, inklusive der sogenannten Bösen, gleichwertig menschlich behandelt. Unsere Unabhängigkeitserklärung besagt, dass das Land auf Werten wie Gleichheit und Gerechtigkeit basiert und dass diese Werte für alle gelten, unabhängig von der Religion oder der politischen Agenda. Ich kann diese Argumentation also nicht nachvollziehen und ich halte sie vor unmoralisch.

derStandard.at: Ein Argument der Siedlungsgegner ist, dass der Glauben an das Heilige Land und der gleichzeitige Kampf gegen die Siedlungspolitik ein Widerspruch seien.

Arik Ascherman: Die jüdische Tradition erklärt das gesamte Land inklusive der okkupierten Gebiete zum Heiligen Land der Israelis – das stimmt. Aber Gott spricht in der Bibel auch über die Regeln unseres moralischen Verhaltens. Die Aktionen, die wir unternehmen, um das Land zu behalten oder bekommen, sind unmoralisch. Was die Befürworter der Siedlungspolitik vergessen: So heilig das Land Israel auch ist, Menschenrechte sind noch heiliger.

So schmerzhaft es auch ist, Teile des Landes abzugeben, es gibt keinen Zweifel darüber, dass Menschenrechte an erster Stelle stehen. Rabbis for Human Rights hat keine Antwort darauf, wo die Grenzen verlaufen sollen. Aber die Anwendung von Gewalt, um die Siedlungen auszubauen, widerspricht der Unabhängigkeitserklärung und der Tora.

derStandard.at: Sie kommen aus den Vereinigten Staaten und leben seit 1991 ständig in Israel. In einer Rede in Oregon 2003 sagten Sie, es habe Sie nach Ihrer Ankunft schockiert, dass einige Teile der israelischen Gesellschaft die Verbindung zwischen Judentum, Humanismus und sozialer Gerechtigkeit nicht unbedingt gesehen haben. Hat sich das geändert?

Arik Ascherman: Es gibt eine große Kluft: Es gibt jene, die in der jüdischen Tradition die wunderbaren Regeln und Richtlinien zum Umgang mit anderen Menschen nicht sehen wollen. Sie denken, dass das nur die Juden – und manchmal nicht einmal alle Juden gleichmäßig – betrifft. Und dann gibt es die, die sagen, dass die Bibel damit alle Menschen meint und keinen Unterschied macht zwischen Reichen, Armen, Frauen und Männern. Ich denke, dass es da noch immer sehr unterschiedliche Auffassungen gibt.

derStandard.at: Ist es schwierig eine Organisation wie die Ihre zu führen, vor allem in Jerusalem?

Arik Ascherman: Viele respektieren und unterstützen unsere Arbeit – manchmal mehr, manchmal eben weniger. Oft ist es auch so, dass Leute, die nicht unsere Meinung vertreten, trotzdem stolz darauf sind, dass es Organsiationen wie unsere gibt. Denn sie wissen und verstehen auch, dass Menschenrechtsorganisationen in einer Demokratie notwendig sind . Diese Einstellung hat sich allerdings seit dem Gazakrieg (Israelische Militäroperation "Gegossenes Blei" Ende Dezember 2008 im Gazastreifen, Anm.) verändert.

Die Knesset (israelisches Parlament, Anm.) hat vergangenes Jahr etwa die Subventionen für NGOs gekürzt. Das ist eine Entwicklung, über die wir sehr besorgt sind. Aber gleichzeitig habe ich Vertrauen in das israelische Volk und glaube daran, dass wir das überwinden werden.

derStandard.at: Rabbis for Human Rights wurde während der Ersten Intifada (gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Palästinensern und der israelischen Armee ab Dezember 1987 bis zum offiziellen Ende, dem Friedensabkommen von Oslo 1993) gegründet. Wie war die Stimmung zu jener Zeit?

Arik Ascherman: Zur Zeit der Ersten Intifada gab es noch viel mehr Sympathien für die Palästinenser. Damals wurden viele ähnilche NGOs gegründet, weil vielen Rabbis klar wurde, dass die Menschen eine rabbinische, jüdisch-theologische Antwort und Erklärung dafür suchten, warum mit der ersten Intifada gewissermaßen eine rote Linie überschritten wurde.

derStandard.at: Zur Immigrationspolitik: Die Regierung hat sich bisher trotz wachsenden Protests nicht erweichen lassen, 400 Gastarbeiterkinder aus Israel nicht abzuschieben. Die Debatte wird zum Teil sehr heftig und untergriffig geführt. Laut offiziellen Angaben leben ungefähr 200.000 nicht-jüdische ausländische Arbeitskräfte aus Asien und Afrika in Israel. Innenminister Eli Yishai sprach deshalb von einer "existenziellen Bedrohung für den jüdischen Staat". Verstehen Sie diese Sorge?

Arik Ascherman: Ich verstehe die Sorgen, die viele Israelis hegen und das Gefühl, dass der jüdische Charakter des Landes und eine starke jüdische Mehrheit beibehalten werden sollen. Ich glaube aber nicht, dass 400 Kinder eine Bedrohung für den jüdischen Charakter des Staates darstellen. Es geht schließlich nicht darum, eine genetische jüdische Linie vorzuweisen, sondern als Jude zu leben.

Es ist auch sehr bezeichnend, dass Organsiationen von Holocaust-Überlebenden sich dagegen aussprechen und sagen, dass dieses Land so etwas angesichts der eigenen Geschichte nicht tun darf. Nicht, dass das Abschieben von Kindern mit dem Holocaust vergleichbar wäre, das ist es natürlich nicht, aber ich denke, dass das jüdische Volk sensibler reagieren sollte auf Vorfälle wie diesen. Ich denke auch, dass es absolut legitim ist, ausländische Arbeiter ins Land zu lassen.

derStandard.at: Israel hat kein Asylgesetz, ist aber aufgrund der Grenze zu Ägypten auch für politische Flüchtlinge aus Afrika zum Gelobten Land geworden. Ministerpräsident Netanyahu gab zu, er müsse angesichts der mangelnden Rechtslage stets "zwischen Humanismus und Zionismus" entscheiden...

Arik Ascherman: Als jüdisches Volk haben wir das Recht darauf zu achten. Es ist legitim, dass das Land seine jüdische Kultur beibehalten und einen Platz in der Welt haben möchte, wo es diese Kultur fortführen kann. So lange wir in einer Welt leben, die aus Nationalstaaten besteht, ist das legitim. Das Problem, das ich sehe, ist aber, dass es dort, wo es eine Mehrheit gibt, automatisch immer auch eine Minderheit gibt, die meistens diskriminiert wird. Ich würde meinen jüdischen Glauben gerne als Brücke zur Welt und nicht als Hindernis und Abschottungsgrund gegenüber dem Rest der Welt sehen.

derStandard.at: Eine Gruppe von 25 radikalen Rabbinern hat vor wenigen Wochen in Tel Aviv einen Aufruf an Hauseigentümer veröffentlicht, keine Wohnungen an "Eindringlinge" – sprich politische Flüchtlinge aus Afrika – zu vermieten. Dem folgte wenig später die Zustimmung einer Koalition aus Maklern und Vermietern. Wird das Problem der mangelnden Rechtsgrundlage von Ideologen, Demagogen und Fundamentalisten missbraucht oder ist das schlicht Rassismus?

Arik Ascherman: Ich weiß nicht, ob das als rassistisch oder einfach als menschenverachtend zu bezeichnen ist. Wir haben jedenfalls über 50 Rabbis organisiert, um eine Antwort auf diese Initiative zu geben. Das ist etwas, was ich nicht so stehen lassen kann. Man muss zwar der Fairness wegen hinzufügen, dass es um Ausländer ging, die keine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis hatten, aber eine solche Reaktion ist dennoch schlicht unangebracht. (fin, derStandard.at, 25.8.2010)