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Pascal Lamy: Protektionismus und die Suche nach Sündenböcken ist eine in der Geschichte gut bekannte Reaktion auf Krisen, aber keine brauchbare Antwort zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit.

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Genf/Wien - Für den Chef der Welthandelsorganisation (WTO), Pascal Lamy, wird Österreich in der Europäischen Union als "mit seiner Kapazität als europäische Schnittstelle", als "Bindeglied zwischen Ost und West", gebraucht, und könnte "einen noch besseren Job erledigen" . Denn: "Österreich soll in der EU eine Koalition kleinerer Länder anführen" , sagt Lamy im STANDARD-Interview mit Thomas Mayer. Mit so einer Koalition könne es gelingen, dass "nicht immer nur die Großen entscheiden".

Als Vorbild könne das Bündnis der Benelux-Länder in den 1980er Jahren dienen:"Wenn die Benelux-Länder eine klare Position hatten, dann konnten Frankreich und Deutschland daran nicht vorbeigehen" , erklärt der frühere französische EU-Kommissar. Nun brauche man "in der EU der 27 eine Art Benelux der neuen Art". Lamy: "Es müssen Länder wie Österreich, Irland, Portugal, Ungarn, Griechenland oder die Slowakei sein, sie haben das Potenzial zu koalieren, nicht gegen andere Mitglieder, sondern um die Themen und Ideen zu kanalisieren." Der WTO-Chef warnt angesichts hoher Arbeitslosigkeit vor neuem Nationalismus und damit verbundenen "Gefahren für die Demokratie" .

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STANDARD: Sie haben in Salzburg bei einer Konferenz über die Zukunft des Wachstums und der Marktwirtschaft in einer globalisierten Welt vom Risiko einer fortgesetzten, sogar steigenden Arbeitslosigkeit gewarnt. Es könnte zu Brüchen in der Gesellschaft kommen, einem Rückfall in neuen Nationalismus, zu einer Bedrohung der Demokratie, wenn es den Regierungen nicht gelingt den Bürgern zu erklären, was mit ihnen in der jüngsten Krise passiert ist. Ist unsere Demokratie in Gefahr?

Lamy: Das rührt von unseren Erfahrungen in der WTO her. Unsere Hauptaufgabe ist es, den Handel zu öffnen, das ist die positive Seite. Daher versuchen wir, die Handelshemmnisse zu beseitigen. Es gibt dabei aber auch eine andere Seite, die besteht darin, Protektionismus zu verhindern. Erinnern sie sich, als die Krise vor zwei Jahren begann. Es gab damals die allgemeine Einsicht, dass wir nicht vermeiden können, was in früheren schweren Krisen passierte, das war ein großer Protektionismus, der Folge der steigenden Arbeitslosigkeit war. Wenn die Menschen von Schock der Krise auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet erfasst werden, dann rufen sie nach Protektionismus.

STANDARD: Meinen Sie, wie man das in Frankreich beobachten kann?

Lamy: Natürlich. Dann ist es unsere Aufgabe zu erklären, warum Protektionismus nicht schützt, warum und wie es andere Wege gibt, um die Jobs zu erhalten. Genau das ist in Europa nun geschehen. Kurzarbeit oder Teilzeitarbeit ist zum Beispiel ein sehr effizienter Weg, um die Jobs zu schützen, wohingegen Protektionismus nicht funktionieren würde. Wenn sie anfangen, ihre Importe zu begrenzen, dann macht jemand anderer dasselbe. Aber ihre Exporte sind die Importe von jemand anderem. Daher ist das ein fundamentaler Punkt: Solange die Arbeitslosigkeit hoch bleibt, bleiben auch die Gefahren für die Demokratie bestehen. Protektionismus ist ein nur technokratisches Wort für ein politisches Gefühl, sich abschotten zu wollen.

STANDARD: Oder eine Übersetzung für Nationalismus?

Lamy: Genau. Die Art wie das auf der innenpolitischen Ebene umgesetzt wird, das ist ein übliches, aus der Geschichte wohl bekanntes Muster. Wenn es intern Probleme gibt, dann werden Sündenböcke gesucht, das sind dann die Fremden, ob sie nun Barbaren genannt werden oder Feinde. Viele politische Systeme haben Kriege kreiert um an der Macht zu bleiben, oder eine Bedrohung von außen konstruiert. Diese Gefahr ist immer gegeben. Die Unvollkommenheit und die Undurchsichtigkeit einer globalen Steuerung trägt das in sich. Wenn ich als Durchschnittsbürger meinen Job verliere, nur weil die Finanztrader in New York Fehler machen, werde ich vielleicht nicht die ganze Komplexität dieses Vorgangs verstehen, aber ich würde vor all dem gerne geschützt werden, und das hat sehr viel damit zu tun, dass man Fremden die Schuld in die Schuhe schiebt. Genau das führt zu politischer Reaktion, zum Aufkommen von populistischen Bewegungen.

STANDARD: Haben die Regierungen zu wenig getan bisher, um die Lage auf den Arbeitsmärkten zu verbessern, sind wir zu sehr auf makroökonomische und theoretische Vorgänge fixiert?

Lamy: Alles in allem genommen haben sie das ganz vernünftig gemeistert, im Vergleich mit früheren Erfahrungen. Das Problem ist, dass die Lage in den USA eine andere ist als zum Beispiel in Europa. Europa ist früher hinein geglitten, die Probleme zeichneten sich ab noch bevor die Krise explosionsartig aufkam mit einem Anstieg der Schulden um 10, 15 Prozent des GDP, und jetzt sind sie mit diesem Schuldenberg konfrontiert, was für die USA, derzeit, noch nicht so stark gilt, ich betone, derzeit. Wir hatten die Diskussion darüber bei den G-20 in Toronto im Juni, wo die Amerikaner sagten, „hey, ihr müsst eure Wirtschaft ankurbeln". Die Europäer haben gesagt, „aber dafür haben wir keinen zusätzlichen Bewegungsspielraum". Und während der Debatte gab es einen Punkt, an dem Kanzlerin Merkel erklärt hat, dass „das Schuldenmachen auf die Zukunft vielleicht in den USA funktioniert, aber nicht in meinem Land. Wenn die Deutschen glauben, dass die öffentlichen Finanzen in einem Schlamassel stecken, dann hören sie auf zu konsumieren. Dann sparen sie mehr". Es gibt zwar keine Patentlösung für alle, aber man kann sagen, dass das europäische System den Schock der Krise gut überstanden hat.

STANDARD: Wer hat es am besten gemacht?

Lamy: Darauf kann man nicht antworten, ohne die ökonomische Ausgangslage in Betracht zu ziehen. Einige hatten größere Spielräume bei der öffentlichen Verschuldung, andere nicht. Da gibt es unterschiedliche Zwänge. Deutschland hat einiges getan um seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, nicht erst bei der Krisenbewältigung sondern vorher. Die deutsche Industrie hat viel früher als andere die Bedeutung der Märkte in den Schwellenländern erkannt, die Feinheiten einer klugen Standortverlagerung, und jetzt profitiert das Land davon und reitet auf der Welle der aufstrebenden Staaten. Wie so oft zeigte sich, dass die Deutschen eine gute strategische Kapazität haben.

STANDARD: Frankreich hat das kritisiert, und gefordert, dass Deutschland mehr für den Konsum in Europa tut. Es scheint aber, dass Berlin mehr und mehr auf Distanz zu Europa geht, ganz anders als zu Zeiten Helmut Kohls.

Lamy: Das ist heute eine andere Generation. Das Eigeninteresse Deutschlands ist weniger „politisch korrekt" als noch vor 30 Jahren. Das hat historische Gründe, aber nochmal, es ist auch Folge einer besseren Anpassungskapazität. Und das hat eine Menge zu tun mit dem deutschen System, wo Konsultation, Abstimmung, gemeinsame Entscheidung zwischen Unternehmen und Gewerkschaften, mit Regionalregierungen, der Industrie und so weiter gegeben sind. All das gehört zu den Tugenden des deutschen Systems.

STANDARD: Zurück zum normalen Arbeiter, der in der Krise seinen Job verliert. Wie soll man ihn davor bewahren, in Abschottung und Nationalismus zu verfallen, wie sie fürchten?

Lamy: Durch ein besseres Verständnis, wie die Welt von heute funktioniert. Wir leben nicht mehr in einer Welt, wo in Österreich etwas erzeugt wird, damit es nach Deutschland exportiert wird, oder in der Schweiz, damit es nach Österreich kommt. Es gibt eine globale Produktion, in Produktionsketten, und ich glaube auch daran, dass das riesige Vorteile bringt. Es erlaubt einem, die Teile der Produktion dort zu finden, wo sie am effizientesten hergestellt werden. Natürlich mischt das völlig neu die Karten auf dem Tisch, indem die Vorteile vergleichbar werden, wie Schumpeter sagte. Aber es ist so, man kann heute nicht mehr eine Schublade haben, in der man seinen internationalen Handel abwickelt, eine andere, in der die heimische Wirtschaft abgewickelt wird, und wieder eine eigene für Sozialpolitik oder Innovation. Das funktioniert heute als Kontinuum.

STANDARD: Meinen sie, wie ein integrierter Schaltkreis?

Lamy: Ja, und eine der großen Fragen für Europa ist zu entscheiden, wie viel Integration auf der nationalen Ebene zugelassen wird, bzw. wie viel man auf die gemeinsame europäische Ebene hebt, wobei gewisse Unterschiede im Sozialsystem bleiben werden.

STANDARD: Sie sagen, dass die entscheidende Ebene aber dennoch der Nationalstaat bleibt, das ist für den früheren engsten Weggefährten von Jacques Delors bemerkenswert, der die EU-Kommission zur europäischen Regierung formen wollte.

Lamy: Das ist und bleibt der Ort, wo die demokratische Legitimation geschieht. Das ist Faktum. Wir können vom Weltbürger träumen, der für etwas abstimmt, was für die ganze Welt von Bedeutung ist. Aber das bleibt ein Traum. Die politische Realität ist, dass die politischen Führer auf der lokalen Ebene gewählt werden und auch lokal Rechenschaft ablegen müssen. Die Realität ist, dass die politische Steuerung weiterhin auf lokaler Ebene legitimiert wird. Der Traum von einer globalisierten Politik ist nicht der richtige Weg, auch wenn Teile der politischen Entscheidungsfindung zwischen den drei wichtigsten Partnern - der Gruppe der G-20-Staaten, der UN, und anderen Organisationen wie dem Währungsfonds und der WTO abgewickelt werden. Am Ende muss das alles in eine politische Debatte auf lokaler Ebene zurückgespielt werden. Daher habe ist die Idee, dass wir die globalen Probleme auf lokale Ebene bringen müssen anstatt die lokalen Probleme auf die globale Ebene zu schieben, politisch betrachtet, der richtige Weg. All das muss in Betracht gezogen werden. Wenn das auf lokaler Ebene nicht geschieht, dann werden Regierungen und Politiker auch nicht zur Rechenschaft gezogen für das, was sie auf der globalen Ebene entscheiden und tun. Dann aber gibt es ein Risiko für die Demokratie. Wenn ich als Wähler meine Stimme abgebe, aber nicht das Gefühl habe, dass das zum Beispiel die Umweltpolitik beeinflusst, dann wird mein Vertrauen in die Demokratie schwinden.

STANDARD: Damit können sie aber auf der anderen Seite nicht aus der Welt schaffen, dass der Klimagipfel in Kopenhagen ein großes Scheitern war, und der wurde von den Staaten dominiert.

Lamy: Das ist eine sehr europäische Sichtweise. Ich habe da ein gemäßigteres Urteil über das, was in Kopenhagen geschehen ist. Es war ein Schritt nach vorne, natürlich nicht das, was die Europäer wollten, und natürlich, weil China und die USA nicht die gleichen Positionen haben in Bezug auf den Umweltschutz und Europa. Gut, wir brauchen Disziplin und verbindliche Regeln bei den Emissionen, sonst macht das alles keinen Sinn. Aber am Ende gibt es keinen anderen Weg, der US-Präsident braucht für jedes Abkommen über den CO2-Ausstoß die Zustimmung des Kongresses. Das ist übrigens ein gutes Beispiel, wir müssen beide Ebenen verbinden, das Bewusstsein auf lokaler Ebene und die entsprechende Führung - und die globale Thematik.

STANDARD: Wie ist das in der Europäischen Union? Jacques Delors, dessen wichtigster Mitarbeiter sie einst waren, ein französischer Sozialist wie sie, wollte die Nationalstaaten überwinden, die Kommission zur Regierung machen. Sind sie von dem abgerückt?

Lamy: Es waren schon die Gründungsväter der EU, sie hatten die Idee, das das europäische Regierungssystem wie das in den Nationalstaaten funktionieren würde, mit einer Regierung, die die Kommission werden sollte, mit einem Senat, gebildet von den Staaten, mit dem Repräsentantenhaus für die Bürger, dem Parlament, und mit einem Obersten Gerichtshof. In den vergangenen fünf Jahren haben wir gesehen, mit dem Vertrag von Lissabon, haben wir gesehen, dass es darüber keinen Konsens gibt zu dieser Version von europäischer Integration. Insbesondere weil Briten, Franzosen und in gewisser Weise auch die Polen sich dagegen stellen. Daher ist das System ein wenig zurückgefallen, sieht eher so aus wie eine internationale Führungsorganisation. Die drei Grundfunktionen jeder Regierung - Führung, Mobilisierung der Ressourcen (Expertise, Geld) und die Rechenschaftspflicht gegenüber dem Bürger - sind gesplittet. Ich denke, das ist ein Faktum. Wir haben versucht, nationale Systeme in der EU nachzubilden, mit einer supranationalen Regierung, aber jetzt wurde daraus mehr so etwas wie intergouvernementale Zusammenarbeit.

STANDARD: Meinen Sie also, dass internationale Kooperation gar nicht anders funktionieren kann als ein integrierter Schaltkreis wie in einem Computer, mit Teilen, die zusammenspielen müssen, aber nicht dominiert werden von oben nach unten, von einer Europäischen Regierung?

Lamy: Exakt das ist es, absolut. Es geht um die Interaktion zwischen allen Elementen, EU-Institutionen, Staaten etc., auf die es ankommt. Moderne Technologie ist ein großer Ermöglicher für dieses Modell, denn Informationsaustausch kann extrem gut sein, sowohl dem Volumen nach wie auch in Bezug auf die Geschwindigkeit. Alles geht in Minuten, das gibt einer Netzwerkregierung gute Chancen. Für viele Leute war eine Regierung immer etwas Vertikales, was von oben kommen muss. Aber heute geht es um horizontale Kommunikation. Faktum ist: Führung heutzutage hat viel zu tun damit, dass eine Gemeinschaft akzeptiert, dass es gemeinsame Zielsetzungen und Ergebnisse gibt, die man erreichen muss. Es kann keine politischen Führer mehr geben, die die quasi die Vorsehung geschickt hat.

STANDARD: Zurück zum globalen Management, welche Konsequenzen sind ihrer Ansicht nach aus der Krise zu ziehen?

Lamy: Wir müssen globalen Themen und Zusammenhängen auf der Ebene der Innenpolitik viel mehr Augenmerk schenken. Parteien, NGOs, Gewerkschaften, Unternehmerverbände müssen für das nötige Brummen sorgen, es muss eine vernehmbare Debatte geben, sodass die Regierungen mehr Rechenschaft geben. Es geht weniger drum, ob Einzelmaßnahmen richtig sind, ob etwa Steuersätze beim Einkommen passen, nein, viel wichtiger wäre es darauf zu achten, ob das, was im Währungsfonds, in der WTO, bei der UNO gesagt wird, übereinstimmt mit der lokalen Ebene. Es ist ein großes Problem, dass die nationalen Regierungen sich inkohärent verhalten. Die Kohärenz muss zu Hause beginnen. Natürlich müssen wir die Regeln auf internationaler Ebene verbessern, aber das ändert nichts und bringt nichts fundamental Neues, wenn wir nicht verändern, was in den jeweiligen heimischen Politiken ansteht.

STANDARD: Wie ist ihre Sichtweise auf Österreich, hat es die Krise gut bewältigt?

Lamy: Ich glaube, Österreich ist ein Land, das eine gute Wahl getroffen hat, im richtigen Moment, wenn man die Veränderungen in der europäischen Geopolitik vor Augen hat. Was auf dem Kontinent seither geschehen ist, hat Österreich eine viel prominentere Rolle beschert, denn es ist ein Interface, ein Bindeglied zwischen Ost und West. Das Land wird gebraucht mit seiner Kapazität als europäische Schnittstelle. Andererseits, Österreich könnte einen noch besseren Job erledigen, indem es andere mittelgroße Länder dazu bringt, Koalitionen zu bilden, damit nicht immer nur die Großen in der EU entscheiden.

STANDARD: So wie Luxemburg es vor 20, 30 Jahren es tat?

Lamy: Das ist exakt das, was ich meine. Erinnern sie sich an die 1980er-Jahre. Zu dieser Zeit gab es Benelux (ein Bündnis von Belgien, Niederlande, Luxemburg, Anm.), und wenn die Beneluxländer eine klare Position hatten, dann konnten Frankreich und Deutschland daran nicht vorbeigehen, sie mussten das in Betracht ziehen. In der EU der 27 brauchen wir eine Art Benelux der neuen Art, nicht nur Belgien oder die Niederlande. Es müssen Länder wie Österreich, oder Irland, Portugal, Ungarn, Griechenland oder die Slowakei sein, sie haben das Potential zu koalieren, nicht gegen andere Mitglieder, sondern um die Themen und Ideen zu kanalisieren. (Langfassung eines in DER STANDARD, Printausgabe, 28.8.2010 erschienen Interviews)