Der Druck auf Thilo Sarrazin wächst, die SPD will den deutschen Bundesbankvorstand nun endgültig loswerden: Das Präsidium der deutschen SPD hat am Montag beschlossen, ein Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin mit dem Ziel des Ausschlusses aus der Partei einzuleiten. Darüber entscheiden muss noch der Parteivorstand. Das teilte die SPD in Berlin mit.
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles kündigte an, dass sich das Präsidium mit dem Thema auseinandersetzen werde. Sarrazins Äußerungen seien weit abgedriftet von den Werten der Sozialdemokratie, sagte die SPD-Politikerin und stellte klar: Sarrazins genetische Definition der Juden sei absolut inakzeptabel – unabhängig davon, welche Attribute er ihnen zuschreibe. Darüber muss noch der Parteivorstand entscheiden. Im März war ein vom Berliner Landesverband angestrengtes Ausschlussverfahren gescheitert.
"Logische Konsequenz"
Nach Ansicht von Nahles missbraucht Sarrazin "den Namen der SPD". Wer Bevölkerungsgruppen pauschal verächtlich mache und gegeneinander aufbringe, treibe ein "perfides, vergiftetes Spiel mit Ängsten und Vorurteilen", sagte sie dem "Hamburger Abendblatt". Der Interims-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Joachim Poß, pflichtete bei: "Nach allem, was geschehen ist, wäre es eine logische Konsequenz, wenn er sein Parteibuch zurückgeben würde." Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte Sarrazin bereits den Rücktritt nahegelegt.
Die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) forderte Sarrazin ebenfalls zum Austritt aus der Partei auf. "Herr Sarrazin sollte sich dringend überlegen, ob die SPD noch seine Partei ist", sagte Kraft der "Rheinischen Post". Wer Wehrlose beschimpfe, nur "um sein Buch besser verkaufen zu können, verletzt die Regeln des menschlichen Anstands und Umgangs", erläuterte Kraft ihre Position.
Bundesbank distanziert sich
Die deutsche Bundesbank will ihren Vorstand vorerst jedoch noch nicht abberufen lassen. Der Vorstand der Bundesbank distanziere sich "entschieden von den diskriminierenden Äußerungen seines Mitglieds Thilo Sarrazin", teilte die deutsche Notenbank am Montag nach einer Sondersitzung des Vorstands in Frankfurt mit. Die Bank werde "unverzüglich ein Gespräch mit Herrn Sarrazin führen, ihn anhören und zeitnah über die weiteren Schritte entscheiden", heißt es in der Erklärung weiter. Sarrazins Äußerungen über Migranten und Ausländer würden der Bundesbank Schaden zufügen. "Obwohl diese Äußerungen als persönliche Meinung deklariert sind und Dr. Sarrazin ausdrücklich nicht für die Bundesbank spricht, werden sie zunehmend der Bundesbank zugerechnet."
Der Bundesbank ist es rechtlich so gut wie unmöglich ein unliebsames Vorstandsmitglied abzuberufen. Dafür müssen schwere Verfehlungen nachgewiesen werden. Erst in einem solchen Fall kann die Bundesbank den Bundespräsidenten bitten, das Vorstandsmitglied zu entlassen. Sarrazin selbst hatte am Mittag bei der Vorstellung seines neuen Buches in Berlin gesagt, er sei sicher, dass er nicht gegen seine Dienstpflichten bei der Bundesbank verstoßen habe. Die Notenbanker erklärten hingegen in ihrer schriftlichen Stellungnahme, Sarrazin habe gegen den Verhaltenskodex für Vorstandsmitglieder der Bundesbank verstoßen, da seine wiederholten Einlassungen dem Ansehen der Bundesbank schaden und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Bundesbank beschädigen würden.
"Gen"-Aussage
In der Debatte über seine Migrationskritik hatte Sarrazin in einem Interview der "Welt am Sonntag" und "Berliner Morgenpost" auf die Frage, ob es eine genetische Identität gebe, gesagt: "Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden." Er glaube, dass sich Begabung vererbe, dass muslimische Migranten dumm seien und deren "enorme Fruchtbarkeit" eine Bedrohung darstellen, weil "die Klugen" gleichzeitig zu wenig Kinder bekommen.
Als Populisten bezeichnete der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, den Bundesbank-Vorstand. Sarrazin diffamiere, biete aber nicht gleichzeitig Lösungen an, sagte er im NDR. Die Politik sollte sich jedoch nicht zu sehr über Sarrazin empören, sondern vielmehr die Frage der Integration und die Perspektiven verbessern.
Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) rechnet im Gespräch mit Spiegel Online mit einer Anzeigen gegen Sarrazin wegen Volksverhetzung. Körting weiter über seinen Parteifreund: "Thilo driftet derzeit ab. Er hatte immer eine Vorliebe für Statistiken. Aber er nutzt in der Integrationsdebatte nur jene, die ihm ins Feindbild passen."
Proteste gegen Buchpräsentation
Seit Tagen diskutiert die Republik über das neue Buch von Thilo Sarrazin ("Deutschland schafft sich ab"), das heute in Berlin vorgestellt wurde. Darin entwirft er unter anderem zwei Szenarien über Deutschland in 100 Jahren: Seine darin präsentierten Gedankenspiele seien "zugespitzt, sie sind Satire, aber sie sind nicht irreal", zitiert die Süddeutsche Zeitung den Autor. Das Land drohe seine Kultur verlieren und wirtschaftlich zurückzufallen, das Asylrecht werde ständig aufgeweicht, immer mehr "Wohlstandsflüchtlinge" kämen ins Land und die Zahl der Muslime nehme rapide zu, orakelt Sarrazin.
Sarrazin will Parteimitglied bleiben
Mit Verwunderung nahm Sarrazin zur Kenntnis, dass die SPD ihn ausschließen will, berichtet Spiegel Online von der Pressekonferenz im Rahmen seiner Buchpräsentation. Die Partei solle doch erstmal etwas vorlegen, was einen Ausschluss rechtfertige. Auf die Frage, ob er der Aufforderung zum Austritt aus der Partei folgen werde, konterte Sarrazin: "Ich habe vor, das SPD-Parteibuch mit ins Grab zu nehmen."
Auf die Frage, ob er auch auch positive Reaktionen auf sein Buch bekommen hätte, antwortete Sarrazin heute auf der Pressekonferenz: Wenn er angesprochen werde, dann ausschließlich positiv. "Erstaunlich viele" hätten sein Buch gelobt.
Sarrazin verteidigte seine umstrittenen Interview-Äußerungen, wonach Juden über ein "gemeinsames Gen" verfügten. Er stütze sich dabei auf wissenschaftliche Studien, sagte Sarrazin. "Es ist unstreitig, dass verschiedene Ethnien und Völkerschaften in ihren Genen teilweise unterschiedlich sind." Es sei absurd, einen "antisemitischen Affekt" aus seinem Buch ableiten zu wollen. Die teilweise überzogene Kritik trage Züge einer "bürgerlichen Hinrichtung". Es gehe vielen Kritikern nur darum, ihn "mit Dreck zu bewerfen".
Ob er sich einige polemischen Begriffe nicht hätte sparen können, fragte ein Journalist. Das Buch basiere auf Fakten und enthalte eine sachliche Analyse, außerdem auch eine Zusammenfassung und darin "auch mal eine wertende Zuspitzung". Schließlich müsse man auch darauf achten, "wie man die Leute mit Kommunikation erreicht", sagte Sarrazin: "Abstrakte Statistiken" gingen an der breiten Schicht der Bevölkerung vorbei, deshalb müsse "ein Buch so geschrieben sein, dass die Inhalte kommunizierbar sind".
"Betroffen"
Er bestritt, andere als kulturelle Gründe dafür angeführt zu haben, dass er den Muslimen Integrationsunwilligkeit bescheinigt. Es kämen "ethnische Gründe für dieses Anderssein nicht infrage", sagte das SPD-Mitglied in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Ob es Kritik gegeben habe, die Ihn nachdenklich gemacht habe? Sarrazin: "Die Unterstellung, ich hätte irgendwo in diesem Buch behauptet, muslimische Migranten seien aus genetischen Gründen anders, die hat mich schon betroffen gemacht. Es ist eine böswillige Interpretation, die einer, der das Buch mit Verstand liest, dort nicht finden kann. Aber nachdem die Redaktion einer Wochenzeitung zwei Stunden lang vergeblich versucht hat, mich in diese Richtung zu lenken – eine sportliche Leistung von beiden Seiten -, habe ich mir gesagt, ich hätte vielleicht noch stärkere Trennlinien zwischen unterschiedlichen Argumentationssträngen ziehen sollen. Darin sehe ich aber höchstens einen lässlichen didaktischen Mangel."
Kritik und Protest
Auch Kanzlerin Angela Merkel kritisierte Sarrazin am Sonntag in der ARD. Merkel nannte Sarrazins Verhalten im Sommerinterview der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" "vollkommen inakzeptabel" und legte der Bundesbank Konsequenzen nahe. Das Geldinstitut sei zwar unabhängig, aber auch "für unser ganzes Land ein Aushängeschild", so die Kanzlerin. "Integration ist keine Einbahnstraße", sagte die CDU-Politikerin. Einwanderer müssten bereit sein, sich in die Gesellschaft zu integrieren, die Sprache lernen und in der Schule mit dabei sein. "Und da haben wir viel, viel zu tun.".
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), forderte die Bundesbank auf, Maßnahmen gegen ihr Vorstandsmitglied zu ergreifen. Sarrazin hätte in seiner Zeit im Berliner Senat "mit gutem Beispiel vorangehen" und mehr für die Integration tun sollen, sagte Böhmer laut ARD. "Wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen."
NPD macht Sarrazin Angebot
Der Vorsitzende der rechtsextremen NPD, Udo Voigt, sieht sich und andere Rechtsextreme in Deutschland durch die Thesen von Sarrazin bei künftigen Prozessen wegen Volksverhetzung geschützt. Sarrazin liege mit seinen Aussagen zur Einwanderungspolitik ganz auf NPD-Linie.
Gegenüber dem ARD-Politikmagazin "Report Mainz" sagte der NPD-Chef: "Unsere Aussagen werden damit salonfähiger und es ist dann auch immer schwerer, Volksverhetzungsverurteilungen gegen NPD-Funktionäre anzustreben, wenn wir uns zur Ausländerpolitik äußern, wenn sich etablierte Politiker auch trauen, das zu äußern." Für den Fall, dass Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen werde oder austrete, macht der NPD-Vorsitzende ein Angebot: "Es würde mich freuen, wenn er als Berater dem NPD-Parteivorstand zur Verfügung stünde oder gar als Ausländerrückführungs-Beauftragter der NPD fungiert." (siehe: Udo Voigt: Sarrazin macht uns salonfähig)
Das Bündnis "Rechtspopulismus stoppen!" hat für heute vor dem Haus der Bundespressekonferenz in Berlin gegen die Buchpräsentation von Ex-Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand Sarrazin eine Protestaktion organisiert. Die Veranstaltung unter dem Motto "Kein Podium für geistige Brandstifter" wird von Politikern der SPD und Grünen unterstützt.
"Kleine Kopftuchmädchen"
Sarrazin war von 2002 bis 2009 Finanzsenator in Berlin und sitzt inzwischen im Vorstand der Bundesbank. Mit seinen provokanten Bemerkungen zur Integration hatte er wiederholt für scharfe Debatten gesorgt. So hatte er türkischen und arabischen Einwanderern in Berlin vorgeworfen, sie seien "weder integrationswillig noch integrationsfähig". Sie hätten "keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel" und produzierten "ständig neue kleine Kopftuchmädchen". Die Bundesbank hatte Sarrazin daraufhin im Oktober die Zuständigkeit für den wichtigen Geschäftsbereich Bargeld im Vorstand abgenommen.
Im März entschied die Landesschiedskommission der Berliner SPD allerdings, dass Sarrazin in der Partei bleiben dürfe. Sarrazin habe sich nicht rassistisch geäußert und auch nicht gegen die Parteisatzung verstoßen. Seine provozierenden Äußerungen seien "sicherlich problematisch, doch sie können zugleich auch nützlich sein", hieß es damals in der Begründung. "Die SPD muss solche provokanten Äußerungen aushalten." (fin, derStandard.at, 30.8.2010)