Nuuk/Kopenhagen - In Australien kennt man den Begriff der "Stolen Generations": Über Jahrzehnte hinweg wurden Aborigines während des 20. Jahrhunderts systematisch die Kinder weggenommen, um diese nach "australischen" bzw. europäischen Wertvorstellungen zu erziehen. Ähnliches ereignete sich, mehr oder weniger stark ausgeprägt, auch auf anderen Kontinenten, die kolonialisiert worden waren.
Einen vergleichsweise wenig bekannten Fall gab es im hohen Norden - auch wenn er nie über das Versuchsstadium hinausgekommen ist. Im Rahmen eines dänischen Sozialforschungsprogramms wurden Anfang der 1950er Jahre 22 grönländische Kinder zwischen sechs und acht Jahren ihren Eltern weggenommen und nach Dänemark gebracht, um sie dort zu "modernen Dänen" zu machen.
Historischer Hintergrund
Grönland ist seit über 4.000 Jahren von verschiedenen Inuit-Gruppen besiedelt. Während des Mittelalters konnten sich hier auch durch Siedler aus Norwegen und Island einige Kleinkolonien etablieren, die allerdings - entweder durch das Ende der mittelalterlichen Warmphase, Konflikte mit den Inuit oder eine Mischung aus beiden Faktoren - nach einigen Jahrhunderten immer mehr an Boden verloren und im 16. Jahrhundert schließlich komplett verschwanden. Erst im 18. Jahrhundert kehrten Europäer auf die Insel zurück, im 19. Jahrhundert wurde Grönland dänisches Herrschaftsgebiet.
Das dänische Sozialexperiment scheiterte jedenfalls gründlich: Die entführten Kinder entwickelten zum Großteil schwere psychische Probleme. Ein Teil von ihnen wurde schon nach einem Jahr nach Grönland zurückgeschickt. Dort wurden sie in Heime gebracht, weil sie von ihren Eltern nicht mehr angenommen wurden oder nicht mehr mit ihnen kommunizieren konnten. Rund die Hälfte der Kinder starb noch vor dem Erreichen des Erwachsenenalters.
Die Geschichte hatte 2009 ein spätes politisches Nachspiel, als Dänemarks Regierungschef Lars Løkke Rasmussen eine von grönländischer Seite geforderte offizielle Entschuldigung sowie Entschädigungen verweigerte. Rasmussen ließ sich lediglich zu einem "Bedauern" hinreißen.
Der Film
Zur Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels trägt nun ein Film bei, der bereits im Vorfeld für einiges Aufsehen gesorgt hat: Der Film "Eksperimentet" ("Das Experiment") der dänischen Regisseurin Louise Friedberg ist am Wochenende in Nuuk, der Hauptstadt des mittlerweile nahezu vollständig autonomen Grönland, uraufgeführt worden. Der Film wurde bei seiner Premiere am Samstag laut grönländischem Rundfunk positiv, aber auch mit den erwartbar heftigen Gefühlen aufgenommen. In Dänemark selbst startet der Film im September, die Produzenten erwarten sich auch internationale Aufmerksamkeit. (red/APA)