Im Gespräch mit Gabriele Lesser erinnert sie sich.

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STANDARD: Als Sie die Uraufführung der Auschwitz-Oper "Die Passagierin" in Bregenz sahen - was war das für ein Gefühl für Sie?

Posmysz: Mir kam die Situation unwirklich vor. Natürlich war ich mir bewusst, dass dies die Komposition Mieczyslaw Weinbergs und mein Roman waren, aber das erleichterte die Sache nicht, eher im Gegenteil. Ich hatte von Anfang an Zweifel, ob sich Auschwitz und damit auch mein Roman als Thema für eine Oper eignen könnte.

STANDARD: Wie wirkte die Oper nun auf Sie?

Posmysz: Vor allem das Bühnenbild war sehr ungewöhnlich und kreativ. Oben an Deck spielte sich das Leben auf dem Luxusdampfer ab, auf dem Unterdeck war das Konzentrationslager Auschwitz. Ich war sehr angespannt. Im Saal war es totenstill. Ich spürte, dass den Menschen das Geschehen auf der Bühne sehr naheging. Schließlich die Schlussszene und der große Applaus. Das war etwas, was ich nicht erwartet hatte.

STANDARD: Und die Musik?

Posmysz: Beim Hören wurde mir klar, dass Weinberg mit seiner Oper die adäquate Musik zu Auschwitz geschaffen hat. Bewegend und lähmend zugleich. Dank seiner Musik werden die Namen von Marta und Tadeusz fortleben.

STANDARD: Können Sie sich vorstellen, was die Uraufführung der Oper für Weinberg bedeutet hätte?

Posmysz: Ich habe ihn zweimal getroffen. Und ich weiß, dass er gerade diesem Werk eine große Bedeutung zumaß. Seine Eltern und seine Schwester kamen im Lager Trawniki bei Lublin ums Leben. Als ich ihn in Moskau besuchte, wusste ich das nicht. Aber unsere Treffen haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Denn Weinberg war ein in sich verschlossener Mensch. Er wollte wissen, ob ich die im Roman beschriebenen Situationen selbst so erlebt hätte. Aber als ich ihm dann antwortete, schien er mit den Gedanken weit weg zu sein. Erst später, als ich schon mehr über sein Schicksal und das seiner Familie wusste, dachte ich: "Wahrscheinlich dachte er an seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester in dem anderen Lager, als ich von Auschwitz erzählte."

STANDARD: Sind die Personen in der "Passagierin" real oder fiktiv?

Posmysz: Real ist die Figur der SS-Frau Anneliese Franz. Die Figuren von Marta und Tadeusz haben ihre Prototypen. Alle SS-Männer und SS-Frauen hingegen tragen auch im Roman ihre wirklichen Namen.

STANDARD: Sie kamen ins Konzentrationslager, als Sie 18 Jahre alt waren. Wie kam es dazu?

Posmysz: In der Okkupationszeit schlossen die Deutschen nicht nur die Universitäten in Polen, sondern auch die Gymnasien. Die Jugend musste sich im Arbeitsamt melden. Ich wurde als Kellnerin in die Kantine einer deutschen Behörde in Krakau zwangsverpflichtet. Zugleich besuchte ich den konspirativen Schulunterricht. Mitunter brachten Mitschüler Flugblätter oder Zeitungen des polnischen Widerstands mit. Jemand denunzierte uns bei der Gestapo. So kam ich zunächst ins Krakauer Montelupich-Gefängnis.

STANDARD: Was passierte dann?

Posmysz: Nach sechs Wochen wurden wir nach Oswiecim gebracht, das die Deutschen Auschwitz nannten. Mir war damals nicht klar, was genau Auschwitz war. 1942 wussten wir nur, dass es dort ein furchtbares Lager gab, wo die Menschen durch mörderische Arbeit ums Leben kamen, an Hunger und Auszehrung starben, durch Schläge und Torturen. Mein Vater, ein Eisenbahner, brachte diese Informationen mit nach Hause. Das Furchtbarste aber war für ihn: "Sie beerdigen die Toten dort nicht. Sie verbrennen sie."

STANDARD: Und die Gaskammern?

Posmysz: Davon erfuhr ich erst später. Als ich bereits in Birkenau war und als Kartoffelschälerin arbeitete, kamen Häftlinge zum Reinigen der Schornsteine in die Küche. Einmal bemerkte einer von ihnen: "Arbeit macht frei durch Krematorium drei." Damals begannen die Vergasungen. Ich begriff, dass in Auschwitz nicht nur die Leichen derjenigen verbrannt wurden, die , sagen wir, eines "natürlichen Todes" gestorben waren, sondern dass Menschen direkt ermordet wurden. Durch Gas.

STANDARD: Wie lange waren Sie in Auschwitz?

Posmysz: Bis zum Ende des Lagers. Das heißt bis zur Evakuierung am 18. Jänner 1945. Die Rote Armee stand schon vor Krakau. Das Lager wurde liquidiert, die letzten Häftlinge mussten den Todesmarsch ins Innere des Deutschen Reichs antreten. Wir gingen zu Fuß, drei Tage und zwei Nächte lang. Bis nach Wodzislaw in Schlesien, auf deutsch Leslau. Dort wurden wir in offene Güterwaggons verladen. Es hatte minus 18 Grad.

STANDARD: Wie lange waren Sie unterwegs?

Posmysz: Die Fahrt nach Ravensbrück dauerte dann noch drei Tage. Dort schliefen wir drei Wochen lang auf dem blanken Ziegelboden, ohne Strohsack oder Matratze. Dann wurden wir in ein Nebenlager von Ravensbrück gebracht, nach Neustadt-Glewe. Dort befreiten uns die Amerikaner am 2. Mai 1945.

STANDARD: Wie hatte Ihre Familie den Krieg überstanden?

Posmysz: Mein Vater war 1943 erschossen worden. Meine Mutter und meine Bruder lebten in völliger Armut. Ich musste sofort Geld verdienen. Krakau war überfüllt von Flüchtlingen und Vertriebenen aus Ostpolen. So fuhr ich ins zerstörte Warschau. Dort wurde jede Hand gebraucht, ich bekam sofort Arbeit. Nach dem Studium der polnischen Philologie begann ich in der Literaturabteilung des polnischen Radios zu arbeiten.

STANDARD: Wann hatten Sie die Idee zu einem Hörspiel aus der Perspektive einer SS-Aufseherin?

Posmysz: Das war 1959. Ich sollte eine Reportage über die neue Fluglinie Warschau-Paris schreiben. In Paris hatte ich einige Stunden Aufenthalt und ging in die Stadt. Die Place de la Concorde war bei den Touristen beliebt. Plötzlich hörte ich, wie eine Stimme rief: "Erika, komm her, wir fahren schon!" Hoch und scharf war die Stimme, so wie die der SS-Aufseherin Anneliese Franz in Auschwitz. Natürlich war sie es nicht. Aber der Gedanke ließ mich nicht mehr los: "Was würde ich tun, wenn ich Anneliese Franz tatsächlich eines Tages gegenüberstehen würde?" Kurze Zeit später schrieb ich das Hörspiel.

STANDARD: Wo haben Sie in Auschwitz gearbeitet?

Posmysz: Erst ein halbes Jahr lang auf dem Feld. Dann, als ich schon im Frauenlager in Birkenau war, erst als Kartoffelschälerin, schließlich direkt am Herd in der Küche. Als 1943 Anneliese Franz Küchenchefin wurde, bestimmte sie mich zu ihrer Schreiberin. Ich sollte die Buchhaltung der Küche führen, des Lebensmittellagers und der Brotkammer. Dank dieser Arbeit überlebte ich Auschwitz.

STANDARD: Im Roman glaubt die ehemalige SS-Aufseherin Lisa in einer Passagierin an Bord des Luxusschiffes eine frühere Auschwitz-Gefangene zu erkennen. Lisa berichtet ihrem Mann von ihrer Vergangenheit und stellt sich ihrem Gewissen. Denken Sie, dass die SS-Frauen eine innere Stimme hatten, die ihnen später Vorwürfe machte?

Posmysz: Das weiß ich nicht. Das kann man sicher nicht verallgemeinern. Vielleicht ist das mein sehr individueller Zugang zu den SS-Frauen. Aber viele Häftlinge versuchten zumindest einen Funken Menschlichkeit in den Verfolgern und Peinigern auszumachen. Das gab Hoffnung auf ein Überleben im Lager. Ich erinnere mich, dass ich am dritten oder vierten Tag nach meiner Ankunft in Auschwitz auf dem Feld ohnmächtig wurde. Mithäftlinge trugen mich zurück ins Lager. Ich wachte auf, als jemand sagte: "Mein Gott, so jung!" Das war die SS-Frau, die am Lagereingang das Häftlingskommando zählte. Aus diesen Worten, vor allem aber aus dieser Stimme, hörte ich Mitgefühl heraus. Etwas Menschliches. Wir klammerten uns an solche manchmal nur winzigen Zeichen eines Gefühls. Das gab Hoffnung.

STANDARD: Als Sie in Bregenz den großen Schlussapplaus hörten, was dachten Sie als Autorin des Romans und Auschwitz-Überlebende?

Posmysz: Ich war zutiefst gerührt. Zum Schluss bat der Regisseur alle Sänger auf die Bühne, ganz am Ende auch mich. Der Applaus dauerte die ganze Zeit an. Das Publikum stand. In solchen Momenten denkt man nicht. Ich war allen dankbar, die daran mitgewirkt hatten, dass Die Passagierin fast fünf Jahrzehnte nach ihrer Entstehung endlich aufgeführt werden konnte. Und das fühle ich bis heute. Denn heute weiß ich schon sicher: Diese Musik trägt die Erinnerung an Auschwitz in die Zukunft. Hätte ich mehr erwarten können? (Gabriele Lesser, DER STANDARD - Printausgabe, 31. August 2010)