Michel Serres macht Rast unter einem Baum in Kalifornien. Er wünscht sich, dass Eltern ihren Kindern vor dem Einschlafen die großen Geschichten der Naturwissenschaften erzählen.

Foto: Linda A. Cicero

Seit über dreißig Jahren lebt Michel Serres im Silicon Valley südlich von San Francisco. An der Universität Stanford setzt er fort, was eine ursprünglich französische Tradition ist, nämlich Natur- und Geisteswissenschaften unter einem Dach zu vereinen. Für Serres, der am 1. September 1930 als Sohn einer Fischerfamilie in der französischen Gascogne geboren wurde, ist die räumliche Nachbarschaft von so unterschiedlichen Disziplinen wie theoretische Mathematik, Biochemie und Informatik sowie Literaturwissenschaft und Philosophie Voraussetzung für einen produktiven, interdisziplinären Austausch.

An der École Normale Supérieure in Paris hingegen hatte er als Mathematik-Student vor allem ein Gegeneinander der Disziplinen erlebt, erinnert sich Serres im Gespräch mit dem Standard: "Man bemühte sich sehr sorgfältig, zwei Populationen voneinander zu trennen: Auf der einen Seite gab es die Geisteswissenschafter, die Naturwissenschafter ignorierten, und auf der anderen die Naturwissenschafter, die in der Literatur, den Künsten und der Philosophie ungebildet waren."

Nach einer abgebrochenen Laufbahn als Marineoffizier kehrte Serres an die Universität zurück und machte 1968 seinen Doktor in Wissenschaftsgeschichte. In der Folge erhielt er einen Lehrstuhl für die Geschichte der Naturwissenschaften an der Sorbonne. Auch wenn er jener Generation französischer Philosophen angehört, die als Vertreter der "Postmoderne" berühmt wurden, stand er selbst nie so sehr im Rampenlicht wie seine Kollegen Michel Foucault, Jacques Derrida oder Roland Barthes. In Frankreich kam Serres erst 1990 zu Ehren, als er zu einem der vierzig "Unsterblichen" der Académie française ernannt wurde, des französischen Geistesolymps.

Disziplinärer Vermittler

Anstatt als Philosoph in den Medien präsent zu sein, ist er lieber selbst das Medium: als Vermittler zwischen den Welten der harten Natur- und der weichen Geisteswissenschaften. Serres ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Nomade - wie sein Altersfreund Gilles Deleuze den Prototyp des Philosophen definiert hat.

Das wesentliche Anliegen von Serres' rund 50 Büchern ist der Austausch - jenem zwischen den Disziplinen, Menschen, Zeiten und "großen Erzählungen". Die Notwendigkeit, den Menschen eine Gegenerzählung zu den Ende des 19. Jahrhunderts abbröckelnden Ideologien und Religionen zu bieten, sah Serres schon während seiner Studienzeit kommen. Sein fünfteiliges Hauptwerk Hermes, das auf Deutsch im Merve-Verlag erschien, liest sich zunächst wie eine mathematische Anleitung, wandelt sich aber zunehmend vom wissenschaftlichen zum poetischen Werk.

Der Merve-Verlag hat für Serres kürzlich im Haus der Kulturen der Welt in Berlin eine vorgezogene Geburtstagsfeier veranstaltet. Serres erwies dabei dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz seine Reverenz, den er als sein Vorbild bezeichnete. In ihm sieht er den letzten großen Universalgelehrten und zugleich den ersten überzeugten Europäer.

Serres ist aber nicht nur ein Querdenker und Brückenbauer zwischen den Disziplinen, sondern auch innerhalb der zeitgenössischen Philosophie. All jenen, die noch immer die großen Erzählungen des 19. Jahrhunderts dekonstruieren, lässt er ausrichten, dass sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue große Erzählungen gebildet haben. Diese stammen sind nun nicht mehr religiöse oder politische Ideologien, sondern fußen auf revolutionären Erkenntnissen der Naturwissenschaften.

Als Beispiele nennt Serres die Geschichte von der Wiege der Menschheit in Afrika sowie jene des Big Bang, die erzählt, wie unser Universum entstanden ist. Ginge es nach ihm, so sollten Eltern ihren Kindern diese Geschichten vor dem Einschlafen erzählen. Erst die Erzählbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse mache jene für alle nachvollziehbar und in weiterer Folge auch diskutierbar. Die Codes der Naturwissenschaften müssen verständlich werden, fordert Serres, für den der Anstoß zum Philosophieren der Abwurf der Atombombe in Hiroshima war und den bis heute die Empörung über menschliches Fehlverhalten leitet.

Immer noch am Puls der Zeit

Ob ökologische Fragen, zeitgenössische Kunst oder Wissenschaft, weltpolitische Krisen oder neue Medien - kein Thema ist Serres zu neu. Gerade die Fähigkeit, das Neue zu erkennen und weiterzudenken, zeichnet für ihn das eigenständige, mitunter einsame Philosophieren aus. Leitspruch ist ihm dabei eine Formulierung des französischen Schriftstellers Alfred de Musset: "Mein Glas ist nicht groß, aber ich trinke aus meinem Glas." Nein, Unbescheidenheit zählt nicht zu den Stärken dieses großen Denkers, der heute achtzig Jahre alt wird. (Karoline Feyertag/DER STANDARD, Printausgabe, 01.09.2010)