Messen und protokollieren, was nur geht: Sport ist nur ein Aspekt für "Self Tracker", die alle vitalen Daten ihres Alltags mithilfe von Handyapps und Sensoren registrieren.

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Zahlen sind fast überall Grundlage von Entscheidungen, ob im Management oder in der Schule, bei der Geldanlage oder vor Wahlen. Nur im privaten Alltag ist das Sammeln von Daten verpönt. Pedantisch aufschreiben, wie viel Kaffee ich trinke, wie viel Geld ich fürs Kino ausgebe, wie lange ich an Werktagen schlafe? Immer mehr Amerikaner tun genau das. "Selftrackers" werden sie genannt. Vorreiter des Trends ist die Bewegung "The Quantified Self", die im Silicon Valley entstand und sich jetzt ausbreitet.

Teil der Übung

An der New York University haben sich an einem Abend Ende August gut zwei Dutzend Anhänger versammelt. Männer und Frauen, die meisten zwischen 30 und 40, alle teilen dieselbe Leidenschaft: Sie erfassen minutiös Daten aus ihrem persönlichen Leben. Alexandra Jacobi trinkt ihr Glas leer und macht dann eine Notiz auf ihrem Smartphone. Sie schreibt alles auf, was mit ihrem Körper zu tun hat. Wie viel Wasser sie trinkt, ist Teil der Übung.

Als Gesundheitsapostel möchte die 44-Jährige jedoch nicht bezeichnet werden. Sie betreibt Selftracking, weil es ihr ein Gefühl von Sicherheit gibt. "Je mehr ich über mich weiß, desto besser", lächelt Alexandra. Ihr reicht das iPhone, um sich selber als statistische Kreatur zu erfassen.

40 Variablen seines Alltagslebens

A. J. Jacobs, ein hagerer Mittdreißiger mit schütterem Haar, misst konsequent 40 Variablen seines Alltagslebens, die er mittels selbstentworfener Diagramme auf seinem MacBook Pro visualisiert. Ohne seinen "Fitbit" geht er nie aus dem Haus. Der Sensor misst jede Körperaktivität von der Anzahl der Schritte bis zum Kalorienverbrauch. A. J. hofft durch gezielte Selbstdigitalisierung Krankheiten zu erkennen, für die er erblich vorbelastet ist. "Meine Freunde nennen mich einen 'Geek'", gibt er zu, "aber ich glaube, dass Selftracking irgendwann so normal sein wird wie Atmen."

Die Quantified-Self-Jünger treffen sich einmal im Monat, um die neuesten Tracking- und Analysetools zu besprechen. In der schönen neuen Gadget-Welt wird es immer einfacher, Daten aus dem ganz persönlichen Alltag zu sammeln. Steve Dean, von Beruf Webdesigner, notiert jeden Cent, den er ausgibt. Nicht, um zu sparen, sondern weil sich daraus ein akribisch genaues Bild seines Lebenswandels ergibt. Für fast jeden Lebensbereich gibt es inzwischen Smartphone-Apps, in manchen Fällen sogar ein ganzes soziales Netzwerk wie Blippy, mit dem man Kreditkartenausgaben nach Art von Twitter publiziert. "Daten sind unsterblich wie alte Fotografien, sie erlauben dir, dein Leben zu jedem Zeitpunkt Revue passieren zu lassen", schwärmt Dean.

Albtraum für Datenschützer

Welche Möglichkeiten sich erst auftun, wenn künftig Regierungen oder Unternehmen Gebrauch von "Personal Informatics" machen, bringt in Europa Datenschützer auf die Barrikaden. Googles Street View ist vielen ebenso ein Dorn im Auge wie die Wahrung der Privatsphäre bei Facebook. Turu Stadler sieht das gelassener. Die Münchner Psychologin lebt seit zehn Jahren in den USA. Sie glaubt, dass insbesondere deutsche Datenschützer historisch vorbelastet sind: "Die Angst erklärt sich daraus, dass die Stasi und Nazis Leute verfolgen konnten, weil deren Daten öffentlich waren." Stadler ermutigt ihre Patienten zum Selftracking, weil sich dadurch seelische Verhaltensmuster leichter erkennen lassen. "Die meisten Selftracker kreisen um sich selbst, sie kämen erst gar nicht auf die Idee, ihre Intimdaten per Blog oder Twitter publikzumachen."

Aber ist es nicht so, dass die permanente Eingabe irgendwann zu viel wird? Alexandra Jacobi schüttelt den Kopf. Sie verweist darauf, dass es mittlerweile zahllose Sensoren gibt, die gewünschte Variablen automatisch erfassen. Sie spare viel Zeit und Geld mit Selftracking. Statt zum Therapeuten zu gehen, erfasst Alexandra jetzt alle Launen und Erlebnisse auf ihrem Smartphone, in einer Bewertungsskala von eins bis fünf. "Früher fühlte ich mich abends oft unzufrieden", sprudelt es aus ihr hervor, "dem war nur so, weil ich mich nicht mehr an die guten Dinge erinnerte, die tagsüber passiert waren."

Sinn der Sache

Nicht immer klappt die datenorientierte Selbstbeelterung. A. J. Jacobs nimmt seinen "Fitbit" jetzt immer vor dem Zubettgehen ab. Das Gerät hat ihm vor Augen geführt, dass seine "Schlafeffizienz" nur mickrige 60 Prozent beträgt. Damit konnte A. J. nicht umgehen: "Ich war entmutigt und deprimiert, und das ist ja schließlich nicht der Sinn der Sache." (Beatrice Uerlings aus New York, DER STANDARD/Printausgabe, 1.9.2010)