In den letzten Jahren war häufig von einer Renaissance der Atomkraft in Europa die Rede. Österreich gehört seit jeher zu jenen Staaten, die auf Kernenergie verzichten. Wir sind mit unserer Anti-Atom-Politik immer gut gefahren, und niemand würde auf die Idee kommen, den erfolgreichen, sicheren österreichischen Weg zu verlassen, nur weil andere Länder umschwenken.

Auch bei der aktuellen Debatte über die allgemeine Wehrpflicht stellt sich die Frage: Wieso sollen wir von einem Kurs abgehen, der sich gerade für einen kleinen neutralen Staat wie Österreich jahrzehntelang außerordentlich gut bewährt hat? Das Mischsystem aus Berufssoldaten, Freiwilligen (Zeitsoldaten), Miliz und Grundwehrdienern funktioniert. Das Bundesheer bewältigt alle seine personalintensiven Einsätze wie etwa den Katastrophenschutz im Inneren, den Assistenzeinsatz im östlichen Grenzraum, die Auslandsmissionen vom Westbalkan bis zum Golan, oder die permanente Luftraumüberwachung zu 100 Prozent. Wie die Erfahrungen der letzten 20 Jahre zeigen, funktioniert es aber in vielen Ländern, die ihr Wehrsystem geändert haben, nicht so einwandfrei. Viele Berufsarmeen in Europa haben enorme Aufbringungsprobleme. In Schweden rechnen Experten mit massiven Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung.

Auch die von Wehrpflichtgegnern gerne ins Treffen geführten Pläne des Nato-Mitgliedstaates Deutschland sind kein Grund, an unserem Erfolgsmodell zu rütteln. Zum einen weiß noch niemand, wie die deutsche Oxymoron-Debatte ("freiwillige Wehrpflicht") ausgehen wird. Oder kann man etwa die präferierte Variante (Aussetzen der Wehrpflicht und Reduktion der Truppenstärke) als vorläufiges Endergebnis bezeichnen? Im Sinne der neuen Oxymora-Kultur gewiss. Zum anderen ist die Situation im einwohnerreichsten EU-Land mit der in Österreich überhaupt nicht zu vergleichen. So hat Deutschland bisher lediglich einen Bruchteil der Wehrpflichtigen eines Geburtsjahrganges nach dem Zufallsprinzip eingezogen. In Österreich hingegen herrscht Wehrgerechtigkeit: Alle 18-jährigen österreichischen Staatsbürger werden zu Wehr- oder Zivildienst einberufen.

Meine Aufgabe als Verteidigungsminister ist es, den Menschen Schutz und Hilfe durch das Bundesheer zu garantieren - und zwar 365 Tage im Jahr. Mit einem Aus der Wehrpflicht wäre es nicht mehr möglich, die verfassungsmäßigen Vorgaben zu erfüllen. Ohne Grundwehrdiener könnten etwa nicht mehr zumindest 10.000 Soldaten für den Katastrophenfall (z. B. Hochwasser 2002) bereit gestellt werden. Die Wehrpflicht ist darüber hinaus die notwendige Basis für die Rekrutierung von Berufssoldaten. Aber nicht nur das: Ein Berufsheer würde auch das Ende der Miliz bedeuten, weil sie sich aus den Grundwehrdienern rekrutiert. Das hätte massive negative Auswirkungen auf die Auslandseinsätze: 56 Prozent der österreichischen Soldaten im Ausland werden durch die Miliz gestellt. Eine Abschaffung der Wehrpflicht würde auch bedeuten, dass es keinen Zivildienst mehr gibt. Denn ein Staat darf seine Bürger nicht zu Zwangsarbeit verpflichten. Das steht in Artikel 4 der Menschenrechtskonvention. Eine Ausnahme gilt für militärische Dienstleistungen. Ohne Zivildiener würde das Gesundheits- und Sozialsystem ins Wanken geraten, erhebliche zusätzliche Kosten würden entstehen. Das Rote Kreuz schätzt sie auf etwa 200 Millionen Euro. Und, wenn wir schon bei den Kosten sind: Ein Berufsheer mit gleichem Leistungsspektrum wäre auch um einiges teurer. Das bisherige Budget müsste verdoppelt werden - angesichts des generellen Sparzwanges ein illusorischer Gedanke. - Es gibt also etliche Gründe, die gegen ein Berufsheer und zugleich für eine Beibehaltung des bisherigen Systems sprechen. Ich halte am Regierungsprogramm fest, wo es heißt: "Die Bundesregierung bekennt sich zu einem Bundesheer, das auf der allgemeinen Wehrpflicht, Miliz- und Berufskomponenten aufbaut sowie zur Beibehaltung des auf sechs Monate verkürzten Wehrdienstes." Daher werden die jungen Staatsbürger auch in Zukunft Dienst für unsere Gesellschaft leisten - ob als Rekrut oder als Zivildiener. (Norbert Darabos, DER STANDARD, Printausgabe, 3.9.2010)