Lost in Oregon: Michelle Williams als Siedlerfrau Emily Tetherow in Kelly Reichardts schlicht beeindruckendem Wettbewerbsbeitrag "Meek's Cutoff".

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Der Titel von Kelly Reichardts neuem Film erscheint auf der Leinwand mit zartem blauen Faden auf weiße Baumwolle gestickt: "Meek's Cutoff" rankt sich krakelig um die Angabe "Oregon 1845". Die erste Aufnahme zeigt ein Ochsengespann vor einem Planwagen. Ein Fluss wird durchquert, Frauen in bodenlangen einfachen Kleidern waten bis zum Bauch im Wasser, sie transportieren empfindliches Gut ans andere Ufer. Später ritzt ein junger Mann das Wort "lost" in einen ausgebleichten Baumstamm.

Damit wird den Abläufen und sorgsam ausgeführten Verrichtungen eine Erzählung eingeschrieben: Drei Familien haben sich mit dem Scout Meek von einem größeren Treck abgespalten, inzwischen trauen sie dessen angeblichen Ortskenntnissen nicht mehr. In den wüsten Gegenden, die die kleine Gruppe durchmisst, sucht man bald vergeblich nach einer Möglichkeit, die schwindenden Wasservorräte zu erneuern.

"Meek's Cutoff" ist der vierte Langfilm der US-Filmemacherin Reichardt. All ihre Arbeiten (zuletzt "Wendy & Lucy") begleiten Protagonisten und Protagonistinnen unterwegs in den USA und bei erzwungenem Stillstand. "Meek's Cutoff", den Planwagen, rote Männerunterwäsche oder (ein) Indianer eindeutig als Western ausweisen, erkundet nun auf beeindruckend konzentrierte Weise die historischen Vorbedingungen für diese Bewegungen. Das Ensemble, dem unter anderem Michelle Williams, Shirley Henderson, Paul Dano und Will Patton angehören, agiert in ruhigster Ernsthaftigkeit und Zurückhaltung und stellt einen materialistischen Entwurf des Pionieralltags her, der bald auf den Kernkonflikt der Landnahme durch weiße Siedler zusteuert.

Unglückliche Befindlichkeit

Sofia Coppola hat ebenfalls ihren vierten Spielfilm im Wettbewerb vorgestellt. "Somewhere" variiert "Lost in Translation" als Heimspiel: Ein Filmschauspieler mit dem schönen Allerweltsnamen Johnny Marco (Stephen Dorff) hat darin in einer Suite des legendären Hotels Chateau Marmont in Los Angeles Quartier bezogen.

Er schlägt die Zeit tot, bricht sich dabei einen Arm, hat mehr oder weniger befriedigende sexuelle Erlebnisse mit fremden Frauen, hängt mit alten Kumpels ab, fährt in seinem schwarzen Ferrari durch die Gegend. Das Auftauchen seiner elfjährigen Tochter Cleo (Elle Fanning) zwingt ihn zu einer gewissen Fokussierung, aber Cleos Platz im Feriencamp ist bereits fix gebucht, Johnny muss irgendwie alleine mit seiner unbestimmt unglücklichen Befindlichkeit fertig werden.

Der Film hat, wie die anderen Arbeiten Coppolas, eine eigenwillige atmosphärische Qualität, was wiederum dem feinen Sinn der gelernten Ausstatterin für Orte, Räume und Situationen geschuldet ist. Sobald in einer Szene allerdings das Driften, die stummen Glücksmomente und die Melancholie bei Johnnys Tagediebereien kurz einer dramatischen, geschriebenen Handlung Platz geben müssen, schleichen sich falsche Töne und Banalitäten ein.

Vom hysterischen Starrummel, den "Somewhere" auch ins Visier nimmt, war in Venedig bisher eher wenig zu merken - was wohl schlicht der weitgehenden Abwesenheit von Hollywoodstars zu verdanken ist. Umso heller konnte dafür ein Festivalgast wie Catherine Deneuve strahlen, die in François Ozons "Potiche" eine zentrale Rolle spielt: Dem Film liegt ein französischer Boulevardkomödienklassiker zugrunde.

Deneuve spielt die Frau eines Regenschirmfabrikanten (Fabrice Luchini) anno 1977. Seit langem erfüllt sie nur noch die Funktion einer Zierfigur, in einer Krisensituation übernimmt sie gezwungenermaßen die Führung der Geschäfte und findet rasch Gefallen an ihren neuen Möglichkeiten. Ozon, der oft schludrige Inbesitznehmer von Genres aller Art, orientiert sich an Tempo, Gestus und Ausstattungswahnsinn des französischen Unterhaltungskinos à la Louis de Funès. Aber er hat sich diesmal sichtlich Mühe gegeben, es nicht bei reiner Oberflächengestaltung zu belassen. Jubel und Szenenapplaus im Saal.

Die Reihe "Orizzonti"

Die Spielfilme im und außerhalb des Wettbewerbs können trotz der Programmdichte (sechs bis sieben Slots pro Saal täglich) jeweils für sich alleine stehen. Die kurzen Formate in der Reihe Orizzonti sind hingegen auf sinnfällige Zusammenstellung innerhalb eines Programmblocks angewiesen. Für Großveranstaltungen wie Venedig ist es nicht selbstverständlich, dass dies auch aufgeht.

Vier österreichische Avantgardefilme wurden hier in den letzten Tagen in Kombination mit internationalen Produktionen welturaufgeführt. Einzig Peter Tscherkasskys "Coming Attractions", der auf Basis schwarz-weißer Werbefilmreste auf ebenso kluge wie heitere Weise Standards des frühen Kinos durcharbeitet, hatte rein gar nichts mit den ihm folgenden Arbeiten von Isaac Julien zu tun. Martin Arnolds zwischen dem Unheimlichen und dem Komischen changierende Cartoon-Dekonstruktion "Shadow Cuts" und "Mouse Palace", ein weiterer hintergründiger Belastungstest von Harald Hund und Paul Horn, waren da schon besser aufgehoben.

Die kongenialste Kombination erlebte Sasha Pirkers "The Future Will Not Be Capitalist", eine schön verdichtete Studie über Oscar Niemeyers in den 60er-Jahren in Auftrag gegebene Parteizentrale der französischen Kommunisten in Paris, mit Patrick Keillers "Robinson in Ruins". Der britische Essayfilmer lässt seinen Helden diesmal ausgehend von genauen Betrachtungen blühender Landschaften in Großbritannien komplexe Verbindungen zwischen historischen Bürgererhebungen und Globalisierung samt Krise ziehen. Einer der Höhepunkte der ersten Festivalhälfte. (Isabella Reicher aus Venedig / DER STANDARD, Printausgabe, 6.9.2010)