Ansichtssache: Goli otok - Titos Gefängnis-Insel

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Hat das Schweigen aufgegeben: Vladimir Bobinac, im Garten seines Hauses auf der Insel Krk

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"Wer am besten zuschlug, durfte aufsteigen": Bobinac

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Einer jener Steine, die Bobinac schleppen musste:  Einer allein ist leicht zu tragen, erst die Masse macht das Gewicht. "Genau das war Goli otok:   Es gab keine Menschen, sondern nur eine Masse"

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Ein Teil jenes Schiffes, mit dem Bobinac zur Insel gebracht wurde - zusammengepfercht mit 400 anderen "Häftlingen"

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Nach der Schließung des Lagers wurden die meisten Dokumente vernichtet

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Heute führt der unbeschwerte "Goli Express" UrlauberInnen über die Insel

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Erklärt wird nichts

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Vladimir Bobinac versucht auf seine Art, Geschichte zu rekonstruieren: Ein Modell der Schlafbaracke auf Goli

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"Alle waren unter Generalverdacht"

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Die kleinen, hellgrünen Feigen mit dem rot-saftigen Fleisch hat er vor einer Stunde gepflückt und in den Eiskasten gestellt, damit sie kühl werden. Jetzt sitzt er da, in seinem Garten auf Krk im kroatischen Mittelmeer, führt eine der Früchte an seinen Mund heran, und zittert dabei ein wenig. Nur jetzt ahnt man kurz, wie alt Vladimir Bobinac wirklich ist. Dann spricht der 88-Jährige wieder davon, was er in den nächsten Tagen alles vorhat: Kommenden Dienstag wird er gemeinsam mit zwanzig durstigen Touristen in der Mittagshitze auf steilen Geröllhügeln herumkraxeln, und er wird der letzte sein, der dabei stöhnt. Er wird Steine aufklauben, sie den BesucherInnen herumreichen, und erklären, was die Steine mit ihm zu tun haben: Er, Vladimir Bobinac, hat diese Steine hier, auf dieser Insel namens Goli otok, vor sechzig Jahren, mit blutenden Händen, von einer Stelle zur anderen getragen, und wieder zurück, wieder hin, und wieder zurück. Ohne Sinn, und ohne Bestimmung, nur mit ein paar Löffeln Maisbrei im Magen. 46 Kilogramm wog der Mann damals, bei 1,70 Metern Körpergröße. Zu trinken gab es zwei Deziliter Wasser am Tag.

Nur nicht streiten

Heute sitzt Herr Bobinac in seinem Garten, erfreut sich bester Gesundheit, ist gut gelaunt, ruhig, niemals nervös oder aufbrausend. Nichts an ihm verrät, was Titos Jugoslawien an ihm verbrochen hat. Es scheint, als spiegelten sein Gesicht, die schlichte Kleidung, sein müdes Lächeln den Umgang des offiziellen Kroatien mit der Tragödie wider: Alle wissen, dass dort, auf jener kahlen Insel nahe Rijeka, Menschen grausamst gefoltert wurden - aber niemand will darüber streiten, wer verantwortlich war. Selbst Herr Bobinac will das nicht. Und doch steckte er in den letzten zwanzig Jahren seine ganze Kraft darin, das Terrorsystem Goli otok ins öffentliche Gedächtnis zu holen, und das gelang ihm auch - zumindest bei jenen Schulklassen und Touristengruppen, die seine Geschichte hören wollten.

"Titos Alcatraz"

Szenenwechsel. Auf der beliebten Ferieninsel Rab vor der Kvarner Bucht ist Hochsaison. Wolken ziehen auf am August-Himmel - ein Anlass für manche, das Badetuch heute ausnahmsweise im Hotel zu lassen. Warum nicht einen Ausflug buchen? Im Tourismusbüro findet sich unter vielen bunten Foldern auch einer in eher düsterem Layout: „Goli otok - Titos Alcatraz", heißt es hier. Zwei Mal täglich könne ein Bootsausflug auf das ehemalge Internierungslager gebucht werden -zwei Stunden um 13 Euro. Heute haben zwei ältere Ehepaare mit Enkelkind die Tour gebucht, punkt zehn Uhr vormittags warten sie gestriegelt am Hafen. Eine der Frauen trägt zierliche Sandaletten mit silbernen Riemchen, die andere ein knalloranges Käppchen und jede Menge Make-up. Auf der zehnminütigen Überfahrt auf die Insel dokumentieren sie per Gruppenfoto mehrmals ihre blendend gute Laune. Dann legt das Boot an, sie steigen aus. Dass der Tour-Guide fragt, ob er "ganz kurz" etwas über die Insel erzählen soll, hören die Urlaubenden gar nicht. Sie steuern zielstrebig das weiße Souvenir-Zelt an.

Knallheiß, eiskalt

Von der Boots-Anlegestelle aus führt ein asphaltierter Güterweg den steilen Hügel hinauf. Gefangene hatten die Straße in Schichtarbeit gebaut, bei eisigem Wind im Winter, bei Wüstenhitze im Sommer. Wer schlapp machte, wurde „diszipliniert". Auch heute ist es unfassbar heiß. Doch der einzige, der ächzt, ist der Zug-Traktor der  Liliputbahn: Anders als Vladimir Bobinac, der seine Kleingruppen zu Fuß auf den Resten des Lagers herumführt, kutschiert der bunt bemalte „Goli Express" des örtlichen Tourismus-Anbieters bequem und sonnengeschützt über die karstige Gefängnisinsel.

Links und rechts der Straße stehen Häuser ohne Fenster, mit herabbrechenden Dachrinnen, und wilden Schafen, die in den Baracken Schatten suchen. Sie sind die einzigen BewohnerInnen der Insel. Kein Wunder: Außer den robusten Tieren, die laut einer Mär Salzwasser trinken, überlebt hier nichts. Tito wusste, warum er genau hier sein Lager errichten ließ, um RegimegegnerInnen oder jene, die dafür gehalten wurden, „zu erziehen": Die Insel ist unbewohnt, und dennoch gut erreichbar, sie liegt nahe beim Festland, ist aber derart hügelig, dass sie - mitsamt den Folterungen, die auf ihr stattfanden - kaum eingesehen werden konnte. Zwangsarbeit, grausamste Gewalt bis hin zu Erschießungen konnten in sicherer Abgeschiedenheit geschehen - 40 Jahre lang.

Limonadenflaschen als Souvenir

Nach 25 Minuten steuert der Goli Express wieder den Hafen an. Wer unwissend hierher gekommen ist, kehrt unwissend zurück: Während der Fahrt gibt es keine Erklärung - wie denn auch: Der Tour-Guide hat den Traktorfahrer alleine losgeschickt, um derweil mit den Fischern im Hafen zu plaudern. „Nehmt euch doch eine Fliese mit, als Andenken - das machen die meisten Urlauber ganz gern", hatte er dem abfahrenden Touristen-Zug noch nachgerufen. Wohl im Unwissen, dass jene Fliesen, die hier in Zwangsarbeit gefertigt wurden, längst abgeerntet worden sind - erst von AnrainerInnen, dann von Urlaubergruppen.

Die einzigen Souvenirs, die hier zu finden wären, sind Limonadenflaschen und Zigarettenpackerln anderer UrlauberInnen. An den Wänden der Baracken haben sie ihre Namen eingeritzt: „Tomy", „Mladen", „Eli" were here. Nichts zeugt von den Gefolterten: Jegliche Beweise hat die Geheimpolizei bei der Schließung des Lagers, 1988, vernichtet.

4000 Tote

So kommt es, dass bis heute niemand weiß, wie viele Menschen hier wirklich angehalten wurden - und wie viele Tote es gab. HistorikerInnen sprechen von über 30.000 Gefangenen, wobei die Hälfte von ihnen bereits in den  ersten fünf Jahren durchs Lager gegangen sei. Laut Schätzungen gab es 4000 Tote, wobei die Zahl jener, die an Folgeleiden gestorben ist, hier nicht berücksichtigt ist.

"Banditen, Banditen!"

Vladimir Bobinac hat überlebt. Da die Folter ihn bis heute quält, erzählt er von ihr. Als er 1951 auf der Insel ankam, war er 29 Jahre alt. Empfangen wurden er und die anderen 400 Neuankömmlinge vom später berüchtigten kroz stroj: Links und rechts der Anlegestelle standen einen Kilometer lang dicht aneinander gereiht die bereits anwesenden Häftlinge im Spalier. Sie hatten den Befehl, auf die „Neuen", die durch diesen Korridor getrieben wurden, mit Knüppeln einzuschlagen, und dabei „Banditen, Banditen!" zu brüllen. Niemand überstand die Tortur ohne Verletzungen, Vladimir Bobinac trug einen Leistenbruch davon.

"Russen springen drei Meter hoch"

Bobinac war zu 24 Monaten „Sozialdienst" verurteilt worden, da ihn ein Kindheitsfreund als "verdächtig" denunziert hatte. Und verdächtig waren 1948, als Stalin mit Tito brach, so ziemlich alle, die im Regime engagiert waren. „Vorher waren die Kommunisten in Stalin verliebt gewesen", erzählt Bobinac. „Es hat geheißen: Die Russen springen drei Meter hoch, russische Wassermelonen sind drei Meter dick, alles aus Russland ist gigantisch - und dann war von einem Tag auf den anderen Russland plötzlich böse." Bobinac war damals im Vorstand der Hochschülerschaft. „Alle haben getuschelt: Der da ist gegen die Russen, der dort ist für die Russen." Alle waren unter Generalverdacht. Dass Bobinac sich weigerte, einen als Stalinisten geltenden Kollegen auszuschließen, sei ihm zum Verhängnis geworden, glaubt er heute. So genau weiß es niemand: Fest steht: Titos Paranoia, jemand könnte Stalin treuer sein als ihm, kostete vielen Menschen jahrelang Freiheit und Menschenwürde, und manchen das Leben.

Wer am besten zuschlägt

Unter den Gefangenen herrschte eine strenge Hierarchie: Alle Neuen wurden „Banditen" genannt. Sie bekamen am wenigsten Schlaf, Essen und Wasser, mussten die härtesten Arbeiten verrichten, wurden am schlimsten gefoltert. Erst, wenn sie begannen, sich „reumütig" zu zeigen, indem sie etwa Familienangehörige denunzierten, durften sie aufsteigen. Die nächsthöhere Stufe waren die „revidirci", die zwar weniger hart gefoltert wurden, dafür aber ständig für den Erhalt ihres Status kämpfen mussten - wieder zum Banditen zu werden, ging schneller als man dachte, berichten Zeitzeugen. Auf der höchsten Stufe standen die „Aktivisten", „Das waren die, die am besten zuschlagen konnten", erklärt Bobinac.

Tatsächlich mussten sich Titos Kommandanten auf Goli otok die Hände nicht schmutzig machen: Folter, Verhöre, Überwachung der Zwangsarbeit - der Großteil wurde den Gefangenen selbst aufgeladen, wobei man dafür den zynischen Begriff „Selbstverwaltung" wählte. Wer die anderen Lager-Insassen besonders effizient peinigte, wurde selbst verschont. Orden und Dienstgrade kassierten jene, die sich derweil im Goli'schen Kino amüsierten - erbaut von den Gefolterten, mit dem Ziel, den auf der Insel stationierten Geheimpolizisten ein wenig den Alltag zu versüßen. In 40 Jahren gab es keinen einzigen Aufstand der Gefangenen. Von der Insel zu fliehen, war praktisch unmöglich: Niemand hatte die Kraft, kilometerweit zu schwimmen, und für zivilen Bootsverkehr war das Meer rund um die Insel gesperrt.

Gras drüber wachsen lassen

1988 wurde Goli otok geschlossen. Mit der Vernichtung der Geheimdokumente wurde die wissenschaftliche Aufarbeitung der Lagergeschichte quasi verunmöglicht, während die politische Aufarbeitung ohnehin nicht gewünscht sei, meint der Zagreber Historiker Goran Jurišić: „In Kroatien herrscht ein totales Schweigen über Goli otok." Regierung und Justiz seien noch zu stark von ehemaligen KP-Funktionären dominiert, diese hätten ein starkes Interesse daran, Gras über die Geschichte wachsen zu lassen. Zeitzeugen-Berichte wie jene Vladimir Bobinacs förderten heikles Material zutage, „aber die Staatsanwälte rühren das nicht an". Von den Tausenden Häftlingen habe sich immerhin ein Dutzend zu einer Strafanzeige gegen Ex-Kommandanten vorgewagt - „aber sie landeten alle in der Schublade", kritisiert Jurišić.

Auch andere Länder interessierten sich wenig für Goli otok. "Obwohl alle westlichen Regierungen sehr genau wussten, dass Goli otok existierte, brachte es niemand zur Sprache - auch nicht gegenüber Tito", sagt die Belgrader Journalistin Tamara Nikcevic. "Die Frage ist: Warum?" Die Antwort ist spekulativ: Während die Westmächte in Tito einen willkommenen Widersacher Stalins sahen, so vermied Stalin selbst jeden Fingerzeig auf Goli otok, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf die "eigenen" Gulags zu lenken. 

Mutter wusste nichts

"Als ich auf Goli otok kam, wusste meine Mutter lange nicht, wohin ich verschwunden war", erzählt Vladimir Bobinac. Die ganze Wahrheit sollte sie auch nie erfahren: Über das, was ihm dort angetan wurde, sprach er erstmals 1990. Ein Schweigegelöbnis war der Preis für das Exit-Ticket aus dem Lager.

Heute spricht er über Goli otok, wenn es sein muss, sogar Stunden lang. Dabei bringt ihn nichts aus der Ruhe - bis auf eine einzige Frage: Sollen die Täter zur Rechenschaft gezogen werden? „Auf keinen Fall!", sagt Bobinac, „auf gar keinen Fall. Ich mache niemandem einen Vorwurf. Auch ich bin im Spalier gestanden, auch ich habe geprügelt und `Banditen, Banditen` gebrüllt: Wir waren alle Täter." (Maria Sterkl, derStandard.at)