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Die Staatsmacht zeigt vor dem Potala-Palast in Lhasa Flagge. Ohne absoluten Machtanspruch funktioniert das chinesische System nicht.

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Nima, der Mönch, der Fragen lieber nicht beantwortet.

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Dong Yunhu, Vizeminister und gefinkelter Dialektiker.

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Busong, die Bäuerin, die einen Flachbildfernseher hat.

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Der umerzogene Norgye, der seine Fehler nun erkennt.

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Für Parteifunktionärin Cui Yuying ist Tibet ein Paradies. 

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Parteichef Hu Jintao gilt als großer Förderer Tibets.

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Das Vorgehen im Himalaya zeigt ungewollt, wie schwach Pekings Politik der Stärke ist.

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Wenn die stechende Höhensonne im Hof des Palcho-Klosters nicht mehr auszuhalten ist, zieht Nima die rote Mönchskutte über seinen geschorenen Kopf. Und werden Fragen zu unangenehm, senkt er seine gesprächigen Augen und sagt: "Keine Ahnung." Warum hat es im März 2008 keine Unruhen in Gyantse gegeben? "Keine Ahnung." Wird er es noch erleben, dass der Dalai Lama nach mehr als 50 Jahren wieder in sein Kloster kommt? "Darf ich die Frage nicht beantworten?" Von dürfen kann keine Rede sein. Nima, der Mönch der sein Handy wie eine Gebetsmühle in einer Hand kreisen lassen kann, muss wohl. Seine Antworten sind das Äußerste an Missmut und Widerstand, das dieser Tage auf einer offiziellen Reise durch Tibet zu bekommen ist.

Der Staatsrat, die chinesische Regierung, lässt nach den Ausschreitungen vor zwei Jahren, langsam wieder Journalistendelegationen in die Autonome Region im Himalaya. Sie sollen sich davon überzeugen, wie stabil und prosperierend das Land doch wieder sei und welche Wohltaten die Zentralregierung den Tibetern angedeihen lasse. "Einmal sehen ist besser als 100-mal hören" , so lautet die Devise, die von den chinesischen Presseverantwortlichen bei endlosen Banketten ausgegeben und danach unablässig wiederholt wird.

Gesehen aber wird in Lhasa und auf der halsbrecherischen Fahrt über 5000 Meter hohe Pässe ins südliche Gyantse und Shigatse nur das, was Peking vorführen will. Und so wird Tibet ungewollt zu einer Metapher, die sich vorzüglich zur Beschreibung des unsicheren Riesen China eignet: Die inzwischen zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt fürchtet sich vor der offen geäußerten Meinung von zweieinhalb Millionen Tibetern, weil diese den unbedingten Machtanspruch der kommunistischen Partei infrage stellen und so das unerbittlich durchgesetzte Konzept von Stabilität und gesellschaftlicher Harmonie erschüttern könnte. Und darauf beruht immerhin der atemberaubende wirtschaftliche Erfolg Chinas.

Also setzt Peking enorme Mittel ein, um ein schnell aufloderndes Feuer am Dach der Welt im Keim zu ersticken. In Lhasa sind Militärkonvois, Bereitschaftspolizei und Soldaten an strategisch wichtigen Punkten allgegenwärtig. Auch in die Religion wird eingegriffen: Der hinter dem im indischen Exil lebenden Dalai Lama zweitwichtigste religiöse Vertreter des tibetischen Buddhismus, der Pantschen Lama, ist 1995 als Kind auf mysteriöse Weise verschwunden und wurde von den Chinesen durch einen eigenen, regimetreuen Pantschen Lama ersetzt, der sich mehr in Peking aufhält als in seinem Stammsitz, dem Tashilumpo-Kloster zu Shigatse.

Dazu pumpt die Zentralregierung enorme Finanzmittel auf die tibetische Hochebene: Von 100 Yuan in Tibet kommen laut dem Institut für Tibetologie in Peking 95 von der Regierung. Im Fünfjahresplan 2006 bis 2010 wurden mit 170 Milliarden Yuan gleich viel Investitionen für Tibet getätigt wie in den 50 Jahren zuvor. - Ein Pantschen Lama auf Linie soll die Herzen, das ganze Geld die Bäuche der Tibeter endlich dazu bringen, sich mit der chinesischen Herrschaft abzufinden.

Bei der 61-jährigen Bäuerin Busong ist die Übung gelungen. Und man kann es ihr nicht verdenken. Vor drei Jahren ist sie von einem Bergdorf nach Sang Zhu Lin, einem kleinen Nest eine halbe Stunde von Lhasa entfernt gezogen. Das Dorf besteht aus lauter neuen, zweigeschoßigen Häusern, die von den Behörden im Rahmen des "Angenehmer-leben-Projektes" hochgezogen wurden. Busong hat zwei gut genährte Kühe vor der Tür stehen, einen Ghettoblaster, der dickste Mauern einreißen könnte, und einen imposanten ChangHong-Flachbildschirmfernseher in ihrem Wohnzimmer. 52 Zoll messe der und derzeit sei er noch der größte in dem 400-Seelen-Dorf, gibt die Bäuerin stolz zu Protokoll. Während sie ihren Gästen Gerstenmost einschenkt, läuft eine tibetische Soap, in der gerade die Tochter des Hauses den künftigen Schwiegersohn vorstellt.

Sie sei 1949 geboren, als noch die Lamas und Adeligen in Tibet das Sagen hatten, erzählt Busong. Ihre Eltern seien Leibeigene gewesen. "Von früh bis spät haben sie arbeiten müssen, ohne genügend Lebensmittel dafür zu bekommen. Als sich mein Vater einmal Getreide bei der Herrschaft ausgeliehen hatte und es nicht fristgerecht zurückgeben konnte, haben sie ihn dafür fast totgeprügelt." Und weiter mit tränenerstickter Stimme: "Leider sind er und die Mutter zu früh gestorben, sie haben unser neues Leben nicht mehr gesehen."

Sie sei, sagt die Bäuerin, als sie mit der Gerstenmostkanne wieder eine Runde macht, eine fromme Frau. Manchmal lade sie Lamas und sogar lebende Buddhas für Gebetsstunden zu sich ins Haus ein. Aber ob ihre politische Einstellung denn nicht in einem Konflikt mit ihrer Religion stehe, so wie der Dalai Lama mit der Zentralregierung? Nein, sagt Busong, zwischen dem Buddhismus und dem Dalai Lama bestehe ja nicht notwendigerweise eine Verbindung. Sie verstehe von Politik nicht viel, sie führe nur ein gutes Leben.

Die Tränen sind trocken, vom glaubhaften Bericht verfällt sie wieder in die Sprachregelung jener Propagandabroschüren, die das Presseamt zuvor sehr großzügig an alle Delegationsmitglieder verteilt hat.

Darin wird die "Befreiung" Tibets durch die Truppen Maos 1951 glorifiziert, das rückständige Regime des Dalai Lama gegeißelt, und die Fortschritte durch die chinesische Entwicklungshilfe werden gepriesen. Über die tausenden Toten und die zerstörten Klöster während der Kulturrevolution findet sich darin nicht viel.

Genauso wenig über die strategischen Interessen der Chinesen: "Großtibet" (siehe Grafik) macht gut 25 Prozent des chinesischen Staatsgebietes aus. Es geht um Bodenschätze, die sich durch den Bau der Bahnlinie nach Lhasa nun auch leichter zu Tal bringen lassen, um ein ethnisches Exempel im Vielvölkerstaat China und um die Reibungsflächen entlang des Himalaya mit dem aufstrebenden Schwellenlandkonkurrenten Indien. Und es geht natürlich um massenhaft zuwandernde Han-Chinesen, die in der neuerdings finanziell so komfortabel ausgestatteten Autonomen Region - der derzeitige Staats- und Parteichef Hu Jintao war von 1988 bis 1993 Parteichef in Lhasa und gilt als großer Förderer der Region, obwohl er dort über Jahre an Höhenkopfschmerzen litt - Geschäfte machen wollen.

Stakkato und steinerne Miene

Für Cui Yuying sind alle diese Einschätzungen naturgemäß unwahr oder sogar Verleumdungen, die das Ansehen Chinas trüben sollen. Sie ist ständiges Mitglied des tibetischen Parteiausschusses der Kommunisten und rattert mit steinerner Miene vor einem an die Wand gemalten lindgrünen tibetischen Idyll alle offiziellen Positionen der Partei in der Sache herunter: Tibet sei erst 1959 wirklich befreit worden, als Mao den Feudalismus und die Leibeigenschaft endgültig verbot. Seither sei die Lebenserwartung der Tibeter von 35 auf 67 Jahre gestiegen, der Analphabetismus von 95 auf 1,8 Prozent gefallen. Die Bevölkerungszunahme von 1,6 Millionen Menschen wird zu 90 Prozent von Tibetern getragen. Die Kultur würde geschützt, genauso wie die sensible Umwelt. "Alt-Tibet soll ein Paradies gewesen sein? Das ist lächerlich. Sehen Sie doch selbst, welches Tibet ein Paradies ist."

Tibets Autonomie fuße auf der Beteiligung aller Gruppen am Volkskongress. Wenn Lhasa wolle, dann könne es sogar Ausnahmegesetze in Peking durchbringen. Und ja, meint Frau Cui energisch, alle genössen in Tibet ihr Existenz- und Entwicklungsrecht: "Die Menschenrechte und Demokratie finden hier bei uns in vollem Umfang statt."

Ziel: "China anschwärzen"

Und die jüngsten Unruhen im März 2008? Die "Ereignisse" seien vom Dalai Lama und seiner verbrecherischen Clique organisiert und gesteuert worden. Er störe gute Entwicklungen in China, sein Separatismus untergrabe die Fortschritte und die Stabilität Tibets. Überhaupt, so glaubt nicht nur Frau Cui, habe der Dalai Lama einen enormen Einfluss auf westliche Regierungen. Auch die Berichte über politische Gefangene und Folter, zuletzt etwa von Human Rights Watch, hätten alle das gleiche Ziel: "Es gibt unzählige solcher Reports, und alle versuchen, die Entwicklung Tibets durch China anzuschwärzen. Man will die Tibet-Frage damit internationalisieren" , sagt die Parteifunktionärin.

Zum Beweis für die These hat man einer Journalistendelegation, die Lhasa vor einigen Monaten besuchte, den Mönch Norgye aus dem Jokhang, dem wichtigsten buddhistischen Tempel, vorgeführt. Der 29-Jährige war einer jener Geistlichen gewesen, die nach den Unruhen vom 14. März 2008 vor laufenden Kameras die fehlende Religionsfreiheit und die schlechten Lebensbedingungen der Tibeter beklagt hatten. Danach wanderte er in ein Lager für patriotische Umerziehung. Diese wirkte so nachhaltig, dass er den Kollegen, die ihn zuletzt im Jokhang-Tempel trafen, mit gesenktem Haupt erklärte, dass er nun eingesehen habe, was für einen großen Fehler er 2008 gemacht habe. China liebe er über alles. Die Frage, ob er denn auch den Dalai Lama weiterhin verehre, beantwortete Norgye dennoch mit einem klaren Ja. Der Übersetzer wollte offenbar nicht zur Umerziehung und machte daraus ein Nein.

Diesmal war der Mönch sicherheitshalber gar nicht zu treffen. Er sei indisponiert, hieß es nach tagelangem Hin und Her. Und außerdem habe er doch schon so viele Interviews gegeben. Auch der geistliche Verwalter des Tempels, der sehr gerne Stellung genommen hätte, sei im letzten Augenblick verhindert gewesen. Leider sei seine Mutter plötzlich erkrankt, ließen die Herren von der Pressestelle wissen. Ja, leider.

Auch eine eigenständige Recherche am Tempel wurde unterbunden. Es sei schon alles geschlossen, niemand spreche Englisch, es gebe keine Genehmigungen dafür, die Höhenkrankheit sei gerade am zweiten Tag in Lhasa äußerst gefährlich, die Journalisten hätten zu viel getrunken, die Zeit sei einfach zu kurz - so lauteten die abwechselnden Begründungen der hektisch telefonierenden Begleiter der Pressedelegation, die sich die kaum trauten, ihren "Schutzbefohlenen" auch nur einen Meter von der Seite zu weichen. Und das in einer Stadt, in der sich jeder Tourist nach Belieben frei bewegen kann.

Angesichts dieses Umgangs werden all die Unternehmer, Fischer, Umweltbeamten und Handwerker, die Mao-Bilder an der Wand hängen haben und die Wohltaten Pekings in Tibet in den höchsten Tönen besingen - "gute Politik, gute Regierung, gute Beamte" - in hohem Maß unglaubwürdig. Alles, was "einmal gesehen" werden soll, klingt nach forcierter politischer Autosuggestion. Weil die Ingenieure der Prosperität in der chinesischen Führung keinen Defätismus und keine Kritik an ihrer umgreifenden Fortschrittsideologie dulden, hat alles gnadenlos harmonisch zu sein - in Tibet und überall anderswo in China genauso. Wer anderes, das Augenscheinliche, behauptet, hat Glück, wenn er nur in der patriotischen Umerziehung landet. Nur in dieser seltsamen Dialektik ist der beinharte Kapitalismus im gegenwärtigen China überhaupt noch mit einer kommunistischen Weltanschauung zu verbinden.

Einer, der diesen seltsamen Zustand vorderhand widerspruchsfrei erklären kann, ist Dong Yunhu. Der kleine Mann mit dem gewinnenden Lächeln hat über den Begriff der Wahrnehmung bei Kant promoviert, war in den 1990er-Jahren Professor bei der Parteihochschule in Peking, Hauptverfasser des Weißbuchs für Menschenrechte von 1991 und hat es inzwischen zum Vizeminister für Informationsfragen beim Staatsrat gebracht. Er freue sich, sagt er, dass die Delegation nun den Eindruck gewonnen habe, dass China ein Entwicklungsland und keine Supermacht sei. Es sei wichtig, zu wissen, dass sich sein Land schnell und nicht überall ausgeglichen entwickelt habe. Die Menschen im Westen seien manchmal sehr egoistisch, und das bestimme auch ihre Sicht der Dinge: "Der Mann der satt ist, sieht die Hungernden nicht."

Während der Kulturrevolution habe ganz China einen Rückschlag erlebt. Dong: "Unsere Politik gegenüber der Religion war da wohl ziemlich übertrieben." Hat sich Mao geirrt? "Es gibt keinen Menschen, der keine Fehler macht. Auch Mao hat Fehler gemacht. Aber er fand auch Vergebung bei den Chinesen. Auch in Tibet, dort wird er ja auch sehr verehrt."

Kampf um die Einheit Chinas

China habe hundert Jahre lang um seine Einheit als Staat gekämpft, sagt der Vizeminister. Das werde man jetzt nicht mehr aufs Spiel setzen, auch wenn der Dalai Lama, "der Separatist" , im Westen große Unterstützung genieße. "Wir werden jedes Mal protestieren, wenn westliche Regierungen jemand empfangen, der unsere territoriale Integrität infrage stellt." Der Dalai Lama dürfe gerne nach China zurückkehren, wenn er Tibet als Teil Chinas anerkennt, seine Exilregierung in Dharmsala auflöst und alle separatistischen Aktionen aufgibt. "Das Tor zu Verhandlungen steht immer offen."

In der Tat hat der Dalai Lama das bereits öffentlich zugesagt, aber die Chinesen trauen ihm nicht. Und auch ein neutraler Vermittler wird von Peking nicht akzeptiert - es gehe ja um interne Angelegenheiten, man sei imstande, diese selbst zu lösen.

Zwischen Suppe und Froschterrine kommt Dong dann nach der allgemeinen Propagandamassage auf sein Lieblingsthema zu sprechen. Tibet brauche eine Religionsreform, eine Aufklärung, wie es sie in Europa gegeben habe. Die müsse von innen heraus kommen, ja, sagt der Philosoph. Aber die Partei werde dabei auch ein wenig helfen.

Natürlich weiß ein belesener Mann mit scharfem Verstand wie Dong, dass der Westen seine Aufklärung vor allem dem Individualismus schuldet und China vom Individualismus ungefähr so weit entfernt ist wie der Dalai Lama von Tibet. Und natürlich weiß er auch, dass Aufklärung Meinungsfreiheit bedeutet. "Ach wissen Sie" , sagt er, "in China ist die Meinungsfreiheit so hochgradig wie in kaum einem anderen Land. Wenn sie die Meinungen der Internet-User in China kennen, dann bekommen sie einen Eindruck von Meinungsfreiheit." Warum dann Free-Tibet-Websites in China nicht zugänglich sind? "Die Internetpolitik in China ist genauso wie in anderen Ländern, wir müssen verbieten, was unsere Gesetze verletzt."

Ist das dann tatsächlich Meinungsfreiheit, Herr Dong? "Was bedeutet denn Freiheit?" , fragt der Vizeminister zurück. "Freiheit ist alles, was durch Gesetze erlaubt ist." Und noch ein Rat: "Wenn sie Freiheit haben wollen, dann können sie doch als Touristen nach Tibet reisen."

Ein guter Vorschlag. Womöglich wäre es den Versuch wert, nachzuprüfen, ob der scheue Mönch Nima ohne behördliche Aufpasser ebenfalls keine Ahnung von der Situation in seinem Land hat. (Von Christoph Prantner/DER STANDARD, Album, 11.9.2010)