Lini Lindmayers eigene Kinder mussten nie "sauber" werden, weil sie niemals gewickelt wurden.

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Windelfreiheit hat nichts mit stundenlangem Topf-Sitzen zu tun.

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Je öfter das Bedürfnis eines Babies beachtet wird, umso stärker und bewusster setzt es seine Signale ein.

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"Da wird ja alles schmutzig", hört Lini Lindmayer oft, wenn sie Eltern zum ersten Mal mit der Möglichkeit konfrontiert, ihre Babies ohne Windel aufwachsen zu lassen. "Dabei ist es doch viel schmutziger, wenn ich ein Kind in seinen eigenen Exkrementen liegen lasse", bringt es die Autorin und Tanzpädagogin auf den Punkt und ergänzt: „Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das so etwas praktiziert."

Keine Windel im Haus

Ihre eigenen Kinder - Tochter und Sohn - mussten nie "sauber" werden, weil sie niemals gewickelt wurden. Auf die Idee brachte Lindmayer das Buch einer Kanadierin über das Leben ohne Windeln bei Naturvölkern. 80 Prozent der Weltbevölkerung wachsen ohne Windel auf. - Nicht nur in Gegenden mit milden klimatischen Bedingungen, sondern auch bei den Inuit, im Norden Chinas oder in Tibet. "Das probieren wir auch", beschloss das Ehepaar Lindmayer und begann am ersten Lebenstag der eigenen Tochter. Als die Hebamme nach der Hausgeburt nach einer Windel fragte, wurde sie vor vollendete Tatsachen gestellt: "Wir haben keine im Haus." 

Die Frage, ob die Windel nicht eine wichtige Errungenschaft der menschlichen Zivilisation sei, verneint Lindmayer: "Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen kann bei Kindern, die rund drei Jahre lang keinen uneingeschränkten Zugang zu ihrem eigenen Körper haben, kein gesundes Körperbewusstsein entstehen."

Neugeborene setzen Signale

Windelfreiheit hat nichts mit stundenlangem Topf-Sitzen zu tun. Es geht nicht um Zwang, Druck und Lob, sondern um die Wahrnehmung von Bedürfnissen, um Kommunikation und um Vertrauen. Konkret funktioniert ein Leben ohne Windel folgendermaßen: Vom ersten Tag an signalisieren Neugeborene ihre Bedürfnisse auf individuelle Art und Weise. "Manchmal werden sie unruhig und quengeln, manchmal bewegen sie sich besonders heftig und niemand weiß, was los ist, denn sie sind gefüttert, gewickelt und ausgeschlafen", berichtet Lindmayer. Größere Babies können sehr fordernd werden, vor allem, wenn die Eltern abgelenkt sind. Wenn diese auf die Signale ihres Babies reagieren, indem sie das Baby über das WC oder ein Töpfchen halten, funktioniert die Ausscheidung meist innerhalb einer Minute. Je öfter das Bedürfnis des Babies beachtet wird, umso stärker und bewusster setzt es seine Signale ein.

Körperliche Nähe

Es gebe zwar kein universelles, und in den ersten Lebenstagen oft noch kein eindeutig wahrnehmbares Signal, aber ein Bewusstsein der Eltern, was das Baby gerade braucht, so Lindmayer. Fünf Tage lang hat es gedauert, bis die junge Mutter die entsprechenden Signale ihrer erstgeborenen Tochter verstanden hat. Nach vier Wochen funktionierte es auch in der Nacht. Beim Sohn war das aufs Töpfchen beziehungsweise aufs WC gehen von Anfang an selbstverständlich.

"Man braucht nichts unbedingt"

Als eine Voraussetzung für die funktionierende Kommunikation zwischen Eltern und Babies sieht Lindmayer körperliche Nähe. Um jedes nonverbale Zeichen interpretieren zu können, empfiehlt sie ein Tragetuch. Bedingt ein windelloses Leben also den permanenten Körperkontakt zur Mutter und ist diese Tag und Nacht ans Baby gebunden? "Im Gegenteil", betont Lindmayer. "Am Anfang hat man ohnehin damit zu tun, sein Kind kennen zu lernen, da fällt die zusätzliche Kommunikation über die Ausscheidungsbedürfnisse kaum ins Gewicht." Sobald die Signale seitens der Eltern eindeutig erkannt werden, sei ein Leben ohne Windel unkomplizierter, günstiger und ökologisch nachhaltiger.

Die "Ausscheidungskommunikation" ist nicht an die Mutter gebunden. Auch andere Bezugspersonen bis hin zu Krippen-BetreuerInnen können angemessen auf das Kind reagieren. Darüber hinaus könne man bei windelfreien Kindern Ausschläge, Pilzerkrankungen, Koliken oder Verstopfung nahezu ausschließen. "Und das Schöne an der Windelfreiheit ist: Man braucht nichts unbedingt", weiß Lindmayer. "Eine Schüssel und Klopapier hat jeder im Haus und unterwegs kann man mit einem Kind überall aufs WC."

Außer Haus

Ob bei einem windellosen Kind viel in die Hose gehe, hänge sehr von den Eltern ab, meint Lindmayer. "Wenn sie unsicher sind und ihr Kind permanent beobachten, geht es oft schief. Wenn sie auf ihr Kind vertrauen, funktioniert es. Auch außer Haus." Wenn man trotzdem aus Sicherheitsgründen Windeln verwenden will, hindere das nicht an der Kommunikation, aber der zweifachen Mutter ist mit ihren eigenen Kindern "noch nie auswärts etwas passiert". Sie weist auf die gut trainierte Beckenbodenmuskulatur windelfreier Kinder hin: "Wenn es drauf ankommt, können sie eine Zeit lang zurückhalten, bis jemand auf ihr Bedürfnis reagiert."

Alleine aufs WC

Mit etwa einem Jahr kommen Babies in eine Phase der Selbständigkeit, in der die Kommunikation eine zeitlang nicht so gut funktioniert, erzählt die Expertin. - Mit dem Ergebnis, dass die Kinder im Alter von zwölf bis etwa 18 Monaten selbständig, beziehungsweise mit minimaler Unterstützung der Eltern, aufs WC gehen wollen und können. Aber auch größere Kinder, die nicht sauber werden wollen, bettnässen oder an Windelausschlägen leiden, können mit Lindmayers windelfreiem Konzept ein Bewusstsein für Bedürfnisse entwickeln, die sie am Tag ihrer Geburt hatten und durch das gewickelt werden verlernt haben. (derStandard.at, 21.09.2010)