Boston - Angesichts zunehmender Antibiotika-Resistenzen haben Wissenschafter die dringende Entwicklung neuer Präparate gefordert. Die um sich greifende Wirkungslosigkeit bestehender Antibiotika habe sich "zu einer globalen Gesundheitskrise entwickelt", sagte die Wiener Expertin Ursula Theuretzbacher am Sonntag (Ortszeit) auf der Jahrestagung der Vereinigung der Infektions- und Antibiotikaexperten (ICAAC) in Boston. "Es gibt inzwischen so viele Fälle, die nicht mehr behandelbar sind", warnte sie. Bei der Entwicklung neuer Antibiotika leiste die pharmazeutische Industrie nicht das, was die Medizin erfordere.

Der Mediziner Gary Noel vom US-Mischkonzern Johnson & Johnson sagte auf der Tagung, der Umfang der wissenschaftlichen Erforschung neuer Antibiotika habe sich in den vergangenen zehn Jahren etwa halbiert. Die Pharmaindustrie habe den Bereich vernachlässigt, weil die Gewinnspannen in anderen Feldern größer gewesen seien als bei diesen Arzneimitteln. Seinen Angaben zufolge sind derzeit weltweit etwa 50 neue Antibiotika in der Entwicklung, von denen aber weniger als die Hälfte die erste Stufe der klinischen Erprobung erreicht haben. Nur eine Handvoll habe bereits die letzte Entwicklungsphase (Phase-III auf Wirksamkeit in großen Patientengruppen) erreicht.

Die Wissenschafter auf der Tagung schlugen neue Finanzierungsmodelle vor, etwa Partnerschaften zwischen staatlichen und privaten Stellen zur Entwicklung neuer Antibiotika. Außerdem forderten sie strengere Richtlinien zur Verabreichung von Antibiotika beim Menschen - aber auch bei Tieren, die in die menschliche Nahrungskette gelangten. Andernfalls drohe ein Rückfall "in die Ära vor der Erfindung von Penicillin", warnte Ursula Theuretzbacher.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte im vergangenen Monat vor der Ausbreitung einer Genmutation gewarnt, die viele krankheitsverursachende Mikroorganismen immun gegen die meisten Antibiotika macht. Die ICAAC (Interscience Conference on Antimicrobial Agents and Chemotherapy) ist die größte Tagung von Fachleuten für Infektionskrankheiten. Die Konferenz in Boston hat etwa 12.000 Teilnehmer. (APA)