Wien - Medienberichte über Selbstmorde können für gefährdete Menschen als Auslöser gesehen werden. Der sogenannte Nachahmungseffekt bei der Berichterstattung über Suizide wird in der Literatur als Werther-Effekt bezeichnet, zurückgehend auf einige Fälle von Imitationssuiziden nach dem Erscheinen von Goethes Werk "Die Leiden des jungen Werthers" im Jahr 1774. Jetzt haben Wissenschafter der Medizinischen Universität Wien noch einen weiteren Effekt herausgefunden: Artikel über Betroffene, die Krisensituationen konstruktiv und ohne suizidales Verhalten bewältigen konnten, haben einen durchaus positiven Effekt auf gefährdete Menschen.
Kleiner bis mittlerer Effekt
Die Forscher bezeichneten den hier auftretenden Effekt als "Papageno-Effekt", weil die Kunstfigur Papageno aus Mozarts "Zauberflöte" ebenfalls eine suizidale Krise bewältigen musste, als er den Verlust seiner geliebten Papagena befürchtet. Er wird jedoch in letzter Minute durch die "drei Knaben" davon überzeugt, dass er die Kraft hat, Papagena für sich zu gewinnen. "Neben dem 'Werther-Effekt' könnte es auch einen suizidpräventiven 'Papageno-Effekt' medialer Berichte geben. Es kommt darauf an, was man daraus macht - das scheint auch für die Gestaltung von medialen Berichten über Suizidalität zu gelten. Der (schützende, Anm.) 'Papageno-Effekt' ist ein kleiner bis mittlerer Effekt - ähnlich groß wie der (negative, Anm.) 'Werther-Effekt', den man mit vier bis fünf Prozent der Suizide ansetzt", so Wissenschaftsleiter Thomas Niederkrotenthaler.
Das Forscherteam vom Zentrum für Public Health rund um Niederkrotenthaler (Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin) hat im Rahmen einer Studie den Werther-Effekt zunächst empirisch abgesichert, indem jene Berichte, die mit signifikanten Veränderungen der Suizidraten einhergehen, charakterisiert wurden. Darüber hinaus fanden die Forscher auch eine Klasse von Berichten, die einen suizidprotektiven Effekt haben könnte, wie Artikel über Betroffene, die Krisensituationen konstruktiv und ohne suizidales Verhalten bewältigen konnten. Eine Senkung der Selbstmordrate in der Woche nach Erscheinen des Artikels konnte damit assoziiert werden. Die Studie wurde im British Journal of Psychiatry publiziert und durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften mitfinanziert.
Insgesamt waren von den Autoren der wissenschaftlichen Arbeit in einem Zeitraum von einem halben Jahr (2005) alle Berichte in den elf größten österreichischen Tageszeitungen gesammelt worden, welche die Begriffe "Selbstmord", "Suizid" oder "Freitod" aufwiesen. Rund 500 Berichte blieben für eine Klassifikation in vier Gruppen übrig:
1) Artikel, welche von der positiven Bewältigung einer suizidalen Krise berichteten.
2) Berichte über Suizide ohne positive oder negative Merkmale in Sachen "Werther"- oder "Papageno"-Effekt (oft nur kurze Zeitungsnotizen).
3) Berichte mit epidemiologischen Daten und viel Aufklärung über Suizidraten, aber auch mit Begriffen wie "Suizid-Welle", "Suizid-Epidemie", welche leicht eine gemischte Botschaft bei Gefährdeten auslösen könnten.
4) Artikel, die vor allem Expertenmeinungen darstellten.
Dann wurde von den Experten in der Hauptverbreitungsregion der Tageszeitungen für die Woche nach dem Artikel die Suizidhäufigkeit untersucht. Das Ergebnis, so Niederkrotenthaler: Nach dem Erscheinen von Berichten über die positive Bewältigung schwerer psychischer Krisen sank die Suizidrate etwas ("Papageno-Effekt"). Berichte der Kategorien 3 und 4 zeigten einen eher negativen Effekt, wenn daraus gemischte Botschaften an bereits Gefährdete entstehen konnten. Neutral wirkten sich Berichte der Kategorie 2 aus.
Suizide verhindern
"Ein derartiger präventiver Effekt wurde unter Experten bereits seit einiger Zeit diskutiert, jedoch gab es bisher keine empirischen Studien dazu", sagte Thomas Niederkrotenthaler. "Es ist zweifelsohne noch weitere wissenschaftliche Arbeit notwendig, um die Evidenzbasis des nun erstmals beschriebenen Papageno-Effekts zu prüfen, doch die neue Richtung der Hypothesenbildung scheint klar vorgegeben: Medienberichte können nicht nur weitere Suizide auslösen, sondern auch Suizide verhindern. Diesen positive Effekt auf die Bevölkerung in der Suizidberichterstattung entsprechend herauszuarbeiten, ist sicher eine journalistische Herausforderung, aber zweifellos von großer Bedeutung für die Suizidprävention", so Niederkrotenthaler abschließend. In Zukunft wollen die Wissenschafter auch den "Papageno-Effekt" weiter absichern und auch Online-Medien in die Analysen einbeziehen. (APA)