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Auch Formel 1-Pilot Fernando Alonso beißt an seinen Fingernägeln.

Foto: APA/EPA/Carmen Jaspersen

Ein Blick auf die Hände des Gegenübers kann vieles verraten: Ehering, Maniküre und aufgeklebte Fingernägel lassen Spekulationen freien Lauf, ebenso abgebissene Fingernägel. Was die Mehrheit als schlechte Angewohnheit abtut, kann aber unter Umständen eine zwanghafte Störung sein.

Nägelkauen, auch Onychophagie genannt, ist in den meisten Fällen ein Phänomen bei Kindern. Das Kauen an den Nägeln beginnt vorwiegend im Kindergartenalter und verschwindet häufig nach der Pubertät wieder. "Das Phanömen Nägelkauen ist trotz der Häufigkeit seines Auftretens selten Gegenstand wissenschaftlicher Studien, epidemiologische Untersuchungen gibt es nur wenige", betont die Psychologin und Psychotherapeutin Eva Lehner-Baumgartner, die an der Psychodermatologischen Ambulanz am Wiener AKH tätig ist. Laut Diagnoseklassifikationssystem ICD (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation gehört Nägelkauen der Kategorie "Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend" an. Da intensives Nägelbeißen oft zwanghaften Charakter annehmen kann, wird es dem Spektrum der Zwangsstörungen zugerechnet.

Mehr als eine Angewohnheit?

Ungefähr ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen können nicht von ihren Fingernägeln lassen, bei den Erwachsenen ist es rund jeder Zehnte. Wollen Betroffene oder Angehörige wissen, ob es sich um eine reine Angewohnheit handelt, oder ob mehr dahinter steckt, muss geklärt werden, in welchen Situationen und Gefühlslagen das Verhalten auftritt und wie intensiv gebissen wird. Denn: Nägelkauen ist nicht gleich Nägelkauen. Die Ausprägungen reichen von nervösem "Knabbern" bis zu zwanghaftem Beißen. Ersteres ist meistens eine Angewohnheit und ein rein kosmetisches Problem, letzteres kann auf psychische Probleme zurückzuführen sein und auch zu gesundheitlichen Komplikationen führen.

Beißen sich Betroffene die Nägel bis weit ins Nagelbett hinein ab oder wird das Nagelhäutchen in Mitleidenschaft gezogen, kann es zu Verletzungen und Infektionen im Nagelbett kommen, die nicht immer problemlos abheilen. "Eine gesunde Haut und gesunde Nägel besitzen eine Schutzfunktion, an offenen Stellen können Krankheitserreger leicht eindringen und eine bakterielle Infektion auslösen", erklärt Lehner-Baumgartner.

Stressabbau

Beobachten Eltern, dass ihr Kind an den Nägeln kaut, ist das noch kein Grund zur Sorge. "Es kann Ausdruck einer leichten Überbelastung sein, da generell in Stress-, Angst- und Konfliktsituationen das Kauen an den Nägeln häufiger zu beobachten ist. Da Kinder noch wenige Möglichkeiten haben, ihre Emotionen wie Ängste und Aggressionen zu regulieren, bauen sie Spannungen oft mittels Nägelkauen ab", so Lehner-Baumgartner. Kauen Betroffene nur hin und wieder an unterschiedlichen Stellen an den Fingernägeln und das in konkreten Situationen - etwa bei Langeweile oder bei Sehen eines spannenden Films - handle es sich wahrscheinlich um eine Gewohnheit, so die Psychologin. In diesem Fall können einfache Verhaltensmaßnahmen wie das Auftragen einer bitter schmeckenden Tinktur oder das Tragen von Leinenhandschuhen beim Abgewöhnen helfen.

Zwanghafte Störung

Anders stellt sich die Situation dar, wenn Betroffene über einen längeren Zeitraum in Stress- und Problemsituationen kauen und dabei auch Nagelbett und -haut verletzen. In diesem Fall wird das Nägelkauen zum raschen Spannungsabbau in emotional schwierigen Situationen eingesetzt. "Hier spricht man nicht mehr von einer 'schlechten Angewohnheit'. In einem ersten Schritt sollte mithilfe von Entspannungsübungen und körperlicher Bewegung das Anspannungsniveau gesenkt werden", empfiehlt die Psychotherapeutin.

Arzt aufsuchen

Noch kritischer wird das Verhalten, wenn zusätzlich zum intensiven, langfristigen Nägelbeißen und zur Verletzung des Nagelbereichs keine konkreten Situationen genannt werden können, in denen die Handlung stattfindet. Dies könne zwar immer noch eine ungünstige Stressbewältigungsmaßnahme, aber auch Ausdruck einer anderen psychischen Störung sein. Bei dieser Ausprägung sollten Betroffene einen Psychologen oder Psychotherapeuten aufsuchen. "Generell gilt, dass ein Arzt konsultiert werden sollte, wenn es zu Verletzungen und Schmerzen kommt und das Nägelkauen trotzdem nicht eingestellt werden kann", so Lehner-Baumgartner.

Eine Symtombekämpfung bleibt bei exzessivem Kauen fast immer ohne Erfolg, da sie nicht das eigentliche Problem löst. Oft berichten die Betroffenen über viele fehlgeschlagene Versuche mit dem Nägelkauen aufzuhören, weiß Lehner-Baumgartner. "Aus psychologischer Sicht ist das Nägelkauen immer Ausdruck einer nervlichen Anspannung, eine psychologisch-psychotherapeutische Behandlung kann in vielen Fällen dabei helfen, die dem Verhalten zugrunde liegenden Probleme zu erkennen und zu bearbeiten." Hinzu komme, dass Betroffene lernen müssen, Stresssituationen rechtzeitig zu erkennen und entsprechend gegensteuern. Dem Erlernen von Entspannungsübungen und deren regelmäßige Anwendung kommt daher eine zentraler Bedeutung zu. "Es muss aber immer von der individuellen Problematik ausgegangen werden, um eine langfristige Veränderung des Verhaltens zu erreichen", erklärt die Psychologin abschließend. (derStandard.at, 29.09.2010)