Richard David Precht, Bestseller-Autor und Philosoph.

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"Das Internet ist nicht in erster Linie ein Meinungsforum, sondern ein Wirtschaftsfaktor." Der deutsche Philosoph Richard David Precht, in der Ankündigung als "Stargast" der heurigen Medientage tituliert, referierte am Dienstag über Meinungsvielfalt und Öffentlichkeit.

Für Precht ist das Internet noch lange nicht dort, wo es manche schon längst verorten: "Viele träumen von Basisdemokratie." Und von einem Hort "jenseits der etablierten Pfade". Die Meinungsvielfalt sei zwar durch die Veröffentlichungsmöglichkeiten so groß wie noch nie, das habe aber nicht zwangsläufig etwas mit einer Demokratisierung der Gesellschaft zu tun, so der Medientheoretiker in seinem Vortrag.

Öffentlichkeit braucht Struktur

Prechts Befund lautet, dass das Internet noch nicht in die Rolle der "alten Leitmedien" geschlüpft sei. Es könne sich heutzutage jeder schnell und einfach mitteilen, "Demokratie ist aber nicht, wenn jeder einfach nur seine Meinung sagen kann", sagt Precht. "Öffentlichkeit" entstehe nicht durch einzelne Kommentare, die im Netz herumgeistern, sondern erst durch die Bündelung von Meinung, die einer Strukturierung bedarf.

Meinungen werden nur wichtig, wenn sie gesellschaftliche Relevanz erlangen, so Precht, der als Beispiel die Internet-Debatte um die Wahl des deutschen Bundespräsidenten erwähnte. So könne man analysieren, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt. "Gegenöffentlichkeiten" könnten organisiert werden.

Inflation des Persönlichen

"Das Persönliche durchflutet alles", sagt Precht und spannt damit den Bogen zu sozialen Netzwerken wie Facebook. Gefühle seien so präsent wie noch nie, was auf der einen Seite zu goutieren ist, so Precht: "Vor zwanzig Jahren ist man noch in den Keller gegangen, wenn man seine Emotionen ausleben wollte." Auf der anderen Seite resultiere dies nicht zwingend in einem Mehr an Empathie, weil die Gefühle sehr egozentrisch ausgelegt werden. Eine Art Inflation der Emotionen habe Platz gegriffen.

Eine zwiespältige Bilanz zieht der Medientheoretiker über die Einführung des Privatfernsehens. "Der Gesamtkuchen ist nicht gewachsen." Es seien zwar viele Jobs entstanden, die aber woanders verloren gegangen sind: "Es hat einfach eine Verschiebung stattgefunden." Privat-TV habe zu einer "Trivialisierung" des öffentlich-rechtlichen Fernsehens geführt, kritisiert er am Beispiel Deutschlands, wie das duale Rundfunksystem die Öffentlichkeit verändert habe. "Jedes Mätzchen wurde von den Privaten übernommen."

Quote als alleiniger Gradmesser

Eine Abwärtsspirale habe eingesetzt, die öffentlich-rechtlichen hätten sich auf einen "Unterbietungswettkampf eingelassen". Die Erfolge werden nur mehr an einer einzigen Währung gemessen, nämlich der Quote.

Als Leistung des Privatfernsehens identifiziert er eine "Befriedung durch Befriedigung", die die Gesellschaft erfasst habe. Einfache Bedürfnisse des Menschen wurden befriedigt. "Das hat den sozialen Frieden enorm stabilisiert."

Aufmerksamkeitsspanne wird kürzer

"Noch nie waren Menschen so gut informiert, was in der Welt passiert." Eine neue Wissensgesellschaft durch schnelle Informationsbeschaffung sei im Entstehen. Medien seien gefordert, ihre Orientierungsfunktion wahrzunehmen. Precht konstatiert eine immer kürzere Aufmerksamkeitsspanne und bezieht sich dabei auf Erkenntnisse aus der Gehirnforschung: "Je mehr ich kurzfristig speichere, desto weniger bleibt langfristig hängen." Ein "Verfügungswissen" habe dem "Orientierungswissen" den Rang abgelaufen.

Beim Internet beschleiche viele das Gefühl, dass es eine "Eigendynamik gibt, die sich jeder Kontrolle entzieht". Eine Regulierung sei schwer möglich. Aber, so Precht, das Netz stehe erst am Anfang einer langen Entwicklung. (derStandard.at, 21.9.2010)