Franz Josef Strauß war immer sehr direkt: "Vox populi, vox Rindvieh" , pflegte der legendäre bayerische Ministerpräsident seine Wähler anzusprechen. Das ist mehr als dreißig Jahre her. Heutzutage würde kein Politiker mehr eine solche Ansprache wagen.

Viele der 966.000 Wahlberechtigten in der Steiermark und der 1,25 Millionen potenziellen Wähler in Wien wissen nicht, wo sie an diesem Sonntag beziehungsweise am 10. Oktober ein Kreuz auf dem Stimmzettel machen sollen. Ein Teil überlegt, weiß zu votieren - also ungültig zu wählen. Aber längst nicht alle Zweifelnden sind politikverdrossen, sondern politikerverdrossen: Sie haben das Hickhack der Parteienvertreter und das Kleinreden von Problemen satt. Viele haben genug von Politikern, die Politik nicht als Gestaltungsaufgabe verstehen, sondern dem Land Stillstand verordnet haben. Diese Bürger haben aber die Politik noch nicht vollständig satt und suchen nach Möglichkeiten, sich einzubringen - außerhalb eines parteipolitischen Engagements. Die vielfach konstatierte Politikverdrossenheit wandelt sich in aktive Teilnahme am demokratischen Prozess.

Das geschieht in unterschiedlichen Formen: Vergangenen Samstag fanden sich mehrere tausend Menschen nach einem Aufruf der Initiative "Machen wir uns stark" vor dem Wiener Burgtor ein, um für mehr Geld im Bildungsbereich, gerechtere Verteilung des Wohlstands und einen radikalen Kurswechsel in der Asyl- und Fremdenpolitik zu demonstrieren. Diese Woche wurde mit Respekt.net eine neue Initiative in Österreich präsentiert, die sich für "neue Wege für gesellschaftspolitisches Engagement jenseits der Parteipolitik" einsetzt. Es werden konkrete Projekte zur Stärkung der Zivilgesellschaft gesucht und gefördert.

Allen ist der Aufstand der Studierenden vom vergangenen Herbst in Erinnerung: Mit ihren Hörsaalbesetzungen haben sie gezeigt, dass sie sich nicht mehr alles gefallen lassen. Und sie haben ein öffentliches Bewusstsein für die Nöte an den Universitäten geschaffen. Ob sie und die Rektoren, die es mit öffentlichen Appellen und Warnungen probieren, zumindest erreicht haben, dass nicht noch weiter gespart wird, wird sich bei den anstehenden Budgetverhandlungen zeigen.

Die neue Bürgerwehr - Bürger setzen sich zur Wehr - ist keine singu-läre Entwicklung in Österreich. In Deutschland gingen vergangenen Samstag fast hunderttausend Menschen in Berlin auf die Straße, um gegen die Verlängerung der AKW-Laufzeiten zu protestieren. Unter ihnen auch Anzugträger, nicht nur Birkenstockläufer. Bei den Kundgebungen gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 marschieren seit Wochen jeden Montag Vertreter der bekanntlich eher bürgerliche Elite in Baden-Württemberg mit, die sich dann als "linke Chaoten" beschimpfen lassen müssen.

Diese Proteste sind Ausdruck einer tiefgehenden Entfremdung zwischen Bürgern und Parteien. Viele haben das Gefühl, dass über sie hinwegregiert und ihr Steuergeld nicht richtig eingesetzt wird. Andererseits können viele Politiker mit dieser "Stimmungsdemokratie" nicht umgehen. Dass gegen Tierschützer und Demonstranten in diesem Land der Antiterrorparagraf angewendet wird, zeigt, dass der Staat nicht diskursiv reagiert, sondern repressiv. Es ist aber das Zeichen einer lebendigen repräsentativen Demokratie, wenn sich Bürger nicht mehr wie Stimmvieh behandeln lassen.(Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.10.2010)