Zur Person

Dieter Fuchs ist Politologe an der Universität Stuttgart. Sein Schwerpunkt ist Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung.

Foto: Hirrlinger

Standard: Die Proteste gegen den Stuttgarter Mega-Bahnhof sind so groß, dass man den Eindruck hat, es gebe gar keine Befürworter.

Fuchs: Es stimmt, die Medienresonanz der Gegner des Bahnhofs ist gewaltig. Es ist natürlich immer leichter, gegen etwas zu sein als für etwas. Aber es gibt schon auch viele Befürworter. In der Vorwoche haben 3000 von ihnen vor dem Bahnhof demonstriert.

Standard: Ist das nicht sehr spät?

Fuchs: Die Befürworter haben sicher einiges versäumt. Sie dachten, das läuft ohnehin seit zehn Jahren, hat alle parlamentarischen Gremien und Verfahren passiert. Es gab kaum Informationen für die Bevölkerung. Unterschätzt wurden auch markante Tage wie jener, an dem die Abrissbagger anrückten. Da konnten die Gegner natürlich sehr viele Leute mobilisieren, das geht via Internet ja heute blitzschnell. Ein genialer Schachzug der Gegner ist auch das Engagement des bekannten Schauspielers Walter Sittler, der sehr eloquent ist.

Standard: Warum gibt es so viel Widerstand gegen diesen Bahnhof?

Fuchs: Viele Menschen wollen nicht hinnehmen, dass dafür so viel Geld ausgegeben wird, man anderswo aber spart. Dazu kommt, dass Stuttgart in einem Talkessel liegt. Die Staub- und Lärmbelastung durch den Umbau akzeptieren viele nicht.

Standard: Wer sind die Menschen, die dagegen auf die Straße gehen?

Fuchs: Es sind nicht mehr die üblichen Demonstrationsteilnehmer, die wie früher in der Anti-Atom-Bewegung verkündeten: Die Welt ist bedroht, wir müssen sie retten. Hier geht vor allem die bürgerliche Mitte auf die Straße.

Standard: Und zeigt, dass sie gar nicht so politikverdrossen ist?

Fuchs: Das sind Menschen, denen es finanziell gutgeht und die ganz klar und berechnend sagen: Dieses Großprojekt bringt für mich keine Vorteile, also engagiere ich mich dagegen. Die Protestierenden haben darüber hinaus auch kaum Vertrauen in die politische Klasse, dass diese in ihrem Sinne agiert. Es herrscht tiefes Misstrauen gegen "die da oben".

Standard: Gegner und Befürworter des Bahnhofs stehen sich unversöhnlich gegenüber. Sehen Sie da Möglichkeiten der Annäherung?

Fuchs: Ich kann es mir nicht vorstellen. Es ist eine Entweder-oder-Frage. Entweder man ist für diesen Bahnhof, oder man ist dagegen. Aus der Forschung über die Protestkultur wissen wir ja auch, dass die Mobilisierungschance dann am größten ist, wenn Menschen emotionalisiert werden und das Thema auf eine einfache Alternative zugespitzt werden kann.

Standard: Deutlich spricht sich nun Kanzlerin Angela Merkel für den Bau aus. Überrascht Sie das?

Fuchs: Das war schon erstaunlich. Offenbar hat Merkel sich die Kritik, sie sei oft zu zögerlich, zu Herzen genommen. Ein Kalkül dürfte auch die festzementierte Haltung der schwarz-gelben Landesregierung in Baden-Württemberg sein. Sie war immer klar für den Bahnhof und kann ein halbes Jahr vor der Landtagswahl keinen Rückzieher mehr machen. Das würde mehr schaden als nutzen. Merkel geht aufs Ganze, um Ministerpräsident Mappus zu unterstützen.

Standard: Die SPD fordert nun angesichts der Proteste einen Volksentscheid. Ist das glaubwürdig?

Fuchs: Zehn Jahre war sie für den Bau, jetzt plötzlich nicht mehr. Das empfinden Wähler als Wankelmütigkeit. Es wird der SPD nicht viel nützen. Die Einzigen, die wirklich profitieren, sind die Grünen. Die waren von Anfang an gegen dieses Großprojekt. (Birgit Baumann, DER STANDARD, Printausgabe, 1. Oktober 2010)