In Österreich gehen die gesellschaftlichen Uhren anders als die politischen. Die Gesellschaft ist nicht mehr die, die sie vor dreißig oder vierzig Jahren war. Doch die Politik tut so, als hätte sich nichts geändert. Gesellschaft und Politik entwickeln sich auseinander - doch auch die Gesellschaft, also wir alle, scheinen dies nicht wirklich zur Kenntnis zu nehmen. Die Hilflosigkeit der Politik wird als moralisierender Vorwurf an die Parteien formuliert - und nicht als Einsicht in eine real ablaufende Entwicklung.

Die Politik wird noch immer so wahrgenommen, als hätte sich seit 1970 oder 1980 nichts Entscheidendes verändert. Da wird die Allmacht der Parteien beschworen - doch diese können zwar noch über die Führungsspitze des ORF oder der ÖBB bestimmen, was aber können sie noch? Die größte Bank Österreichs wird von Mailand aus regiert, die AUA gehört der Lufthansa, die Regierungsspitze verneigt sich vor dem Boulevard, und in der Schulpolitik haben die gewerkschaftlich organisierten Lehrer/innen die Parteien fest im Griff.

Den Parteien - vor allem SPÖ und ÖVP - ist der gesellschaftliche Hintergrund weitgehend abhanden gekommen. Die Zahl der Parteimitglieder ist um etwa die Hälfte geschrumpft: Die Jungen sehen immer weniger Sinn darin, sich an eine Partei zu binden. Die Wahlbeteiligung geht zurück, und nur noch etwa die Hälfte aller Wahlberechtigten wählt SPÖ oder ÖVP. Die Politik - vor allem auch die politische Berichterstattung - geht jedoch nach wie vor von der Fiktion aus, dass die Republik aus Reichshälften besteht. Doch es gibt kein Reich mehr - und das, was von ihm übrig ist, kann von den Parteien nur noch über Personalentscheidungen, nicht aber inhaltliche Weichenstellungen kontrolliert werden.

Politik scheint in Österreich nach wie vor darin zu bestehen, das Verhältnis "rot" und "schwarz" zu bestimmen - im Stiftungsrat des ORF oder in der steirischen Landesregierung. Politik, das sind die endlosen Wiederholungen der Formeln zu Themen wie Föderalismus oder Gesundheitsreform oder Pensionssicherung. Die Politik geht im Kreis. Die Gesellschaft aber entwickelt sich weiter: die Stichworte sind Überalterung und Zuwanderung, Auszug aus den Kirchen und rechtspopulistisches Neo-Proletariat.

Dass es um die Lebensqualität im siebten Jahrzehnt der Zweiten Republik nach wie vor verhältnismäßig gut bestellt ist, spricht wohl - auch - für die Politik von gestern; für die Zeit, in der ÖVP und SPÖ, ÖGB und Bundeswirtschaftskammer die Schatten der Vergangenheit - anscheinend, scheinbar - hinter sich ließen und einen demokratischen Wohlfahrtsstaat aufbauten, der ein historisch einmaliges Maß an sozialer Sicherheit und politischer Freiheit ermöglichte.

Seither ist die Politik defensiv - sie verteidigt das Erreichte. Das scheint Aufgabe genug zu sein: In Zeiten einer globalen Krise sind Gestaltungsfantasien offenbar nicht gefragt. Das bekommt das Bildungssystem zu spüren - Österreich muss, gemessen am Reichtum des Landes, wohl ganz weit unten in der Tabelle bildungspolitischer Leistung platziert werden. Die politische Lähmung äußert sich aber auch in den Lebenslügen - darin, dass Österreich keine Migrations-, sondern nur eine "Fremdenpolitik" hat, die sich in einer restriktiven Asylpolitik manifestiert; darin, dass die Mantra von der Neutralität im Lande nach wie vor gilt - unbeschadet dessen, dass außerhalb Österreichs niemand diese Neutralität wahrzunehmen vermag.

Die Austrifizierung der Zweiten Republik war, alles in allem, ein großer Erfolg: Die Außerstreitstellung der Demokratie und die ökonomische Stabilität halfen mit, den Inferioritätskomplex der Ersten Republik zu überwinden. Doch als diese Erfolge selbstverständlich wurden, begann die Politik ratlos zu werden, was denn überhaupt noch zu tun sei - außer, den Status quo zu verteidigen. Die Republik wurde strukturkonservativ. Die letzte große Kraftanstrengung war der EU-Beitritt, ab 1994 herrscht politische Flaute. Seither wird die Politik von zumeist aus der FPÖ kommenden Clownerien bestimmt - die sorgen für eine Politik der Gefühle.

Die Erfolge der Zweiten Republik waren durch einen spezifisch "österreichischen Weg" gekennzeichnet, dem aber mittlerweile die Voraussetzungen abhanden gekommen sind; oder, besser: dieser Weg hat sein Ziel erreicht. Der EU-Beitritt hätte der Beginn eines neuen Weges sein können - in Europa. Doch Österreich ist in Europa mental noch nicht angekommen: Slowakische Krankenpflegerinnen gelten als Ausländerinnen, und das Bundesheer steht - in Erfüllung einer operettenhaft-absurden Aufgabe - an der österreichisch-ungarischen Grenze. Österreich spielt sich in der Atompolitik als Lehrmeister Europas auf - statt in der Bildungspolitik Europa als Lehrmeister zu akzeptieren. Österreichische EU-Abgeordnete, die sich ein eigenständiges europapolitisches Profil erarbeiten, werden von ihren Parteien bestraft. An die Stelle des österreichischen Weges ist kein europäischer getreten.

Von Peter Pulzer stammt der Satz, das primäre Interesse von PolitikerInnen sei es "to survive until next Wednesday". Das ist kein Vorwurf an die Politik. Das ist die Beschreibung eines der Demokratie immanenten Abhängigkeitsverhältnisses. Es wäre naiv, Impulse für Veränderungen von der Politik zu erwarten. Diese Impulse müssen aus der Gesellschaft kommen. Und sie kommen ja auch - die Feminisierung etwa, ausgedrückt im überall zu beobachtende Rückgang geschlechtsspezifischer Rollendifferenz. Die Politik hat die Aufgabe, solche Impulse aufzugreifen und umzusetzen - nicht aber, diese Impulse selbst zu definieren. Mit anderen Worten: für eine neue Befindlichkeit in der Politik ist nicht diese selbst zuständig. Für eine neue Befindlichkeit muss die Gesellschaft sorgen - die sozialen Bewegungen und die Religionsgemeinschaften, artikuliert durch neue Medien und den Konflikt der Geschlechter und der Generationen. Die Politik kann und soll darauf reagieren. Auf das Agieren der Politik brauchen wir nicht zu hoffen. (Anton Pelinka, DER STANDARD, Printausgabe, 1.10.2010)