In Industriestaaten zählt Gleichheit und nicht Wohlstand, behauptet Wilkinson.

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Richard Wilkinson, Kate Pickett: "Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind." Tolkemitt, 19,90 Euro

In ungleichen Gesellschaften sterben die Menschen früher, begehen mehr Verbrechen und sind häufiger depressiv, sagt der britische Soziologe Richard Wilkinson. Warum der soziale Stress so entscheidend für unser Wohlbefinden ist, erzählte er András Szigetvari.

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STANDARD: Sie behaupten in Ihrem Buch, dass soziale Ungleichheit die zentrale Ursache für die meisten Probleme einer Gesellschaft ist. Wie kommen Sie darauf?

Wilkinson: Wir haben uns die 23 reichsten Industriestaaten angesehen. Unser Ergebnis: Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto größer sind die sozialen Proble-me. Ungleichere Gesellschaften schneiden bei der Lebenserwartung schlechter ab, es gibt mehr Drogensüchtige, mehr psychische Erkrankungen wie Depression, mehr Kriminalität. Ja sogar die Zahl der Teenager-Schwangerschaften ist höher.

STANDARD: Welche Staaten schneiden besonders schlecht ab? Wie messen Sie Ungleichheit?

Wilkinson: Am unteren Ende der Skala finden sich die USA, Portugal, Australien, Großbritannien und Singapur. Sehr gut schneiden Schweden, Norwegen und Japan ab. Maßstab unserer Ländervergleiche war das Einkommen der reichsten und der ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung im jeweiligen Land. Wir haben uns also nur Einkommen und nicht Vermögen angesehen.

STANDARD: Dass soziale Faktoren die Kriminalitätsrate beeinflussen, ist nicht überraschend. Aber warum sollte die Verbrechensrate sinken, nur weil ein Land sozial gleicher ist?

Wilkinson: Unterschiede bei den Einkommen beeinflussen die sozialen Probleme sogar stärker als die Höhe des Durchschnittseinkommens in einem Land. Zumindest gilt das, wenn eine Gesellschaft einen bestimmten Grundwohlstand erreicht hat. Das liegt daran, dass Ungleichheit die Qualität sozialer Beziehungen beeinträchtigt. Die Angst vor dem sozialen Abstieg und der Statuswettbewerb sind in ungleichen Gesellschaften größer. Damit ist aber automatisch auch die psychosoziale Belastung in ungleicheren Gesellschaften höher.

STANDARD: Haben Sie ein eklatantes Beispiel für die Folgen?

Wilkinson: Die Kriminalitätsrate ist in den US-Bundesstaaten mit den geringsten Einkommensunterschieden bis zu sechsmal niedriger als in Bundesstaaten mit großen Differenzen. Internationale Vergleiche zeigen, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen in ungleicheren Gesellschaften dreimal höher ist. Auffallend war, dass auch das Strafsystem betroffen ist. Selbst die Gerichte strafen in ungleichen Gesellschaften strenger.

STANDARD: Leiden eigentlich nur die Ärmsten unter Ungleichheit?

Wilkinson: Nein. Die Auswirkungen sind in den unteren sozialen Gruppen größer. Aber abgesehen von den reichsten ein Prozent, über die es wenig Daten gibt, profitieren alle Schichten von einer besseren Verteilung des Einkommens.

STANDARD: Ist es wichtig, wer für den Ausgleich sorgt - ist das die Aufgabe des Staates?

Wilkinson: Interessanterweise ist das nicht sehr wichtig. Schweden schneidet gut ab, und dort funktioniert die Umverteilung über den Staat und die Steuern. Aber auch Japan schneidet gut ab, obwohl der Staat dort nicht dieselbe Rolle spielt. Allerdings ist die Entlohnung in japanischen Unternehmen gleicher als in anderen Ländern. Interessant ist, dass selbst die Qualität öffentlicher Dienstleistungen nicht der entscheidende Faktor dafür ist, wie gut sich ein Land macht.

STANDARD: Warum ist das so?

Wilkinson: In Großbritannien haben Untersuchungen gezeigt, dass bei Beamten die im gleichen Büro arbeiten, die Sterblichkeitsrate unter den Mitarbeitern aus der unteren Einkommensschicht dreimal höher ist als in der obersten. Dabei nutzen in England fast alle Menschen das gleiche öffentliche Gesundheitssystem. Es scheint, als ob der ökonomische und der soziale Einfluss auf die Lebenserwartung größer ist als jener der Medizin.

STANDARD: Aber wenn Ihre Thesen stimmen: Warum werden wir immer älter, und warum sinkt die Kriminalitätsrate in der westlichen Welt, obwohl alle Statistiken zeigen, dass unsere Gesellschaften immer ungleicher werden?

Wilkinson: Die Variablen, die wir uns angesehen haben, werden auch von anderen Faktoren bestimmt. Wie gut Schüler bei Lesetests abschneiden, hängt natürlich auch davon ab, wie ihre Lehrer ausgebildet sind und wie viele Lehrer es überhaupt gibt. Wir sagen ja nur, dass Ungleichheit als sozialer Faktor immer hinzutritt.

STANDARD: Was ist eigentlich die Lehre aus alledem: Müssen wir die Einkommen gleicher verteilen?

Wilkinson: Ja, auch. Aber vor allem müssen wir aufhören, die Qualität menschlichen Lebens darüber zu messen, wie viel wir materiell konsumieren. Das war angebracht, als unsere Länder tatsächlich arm waren, inzwischen sind die Grundbedürfnisse aber erfüllt. Jetzt hängt das Wohlbefinden unserer Gesellschaften viel mehr von der Qualität unserer sozialen Beziehungen und unserer Umwelt als von Konsum und Wettbewerb ab. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2./3.10.2010)